Next Article in Journal
Neo Snowman in X-Ray
Previous Article in Journal
LDL-Cholesterol and the Potential for Coronary Risk Improvement
 
 
Cardiovascular Medicine is published by MDPI from Volume 28 Issue 1 (2025). Previous articles were published by another publisher in Open Access under a CC-BY (or CC-BY-NC-ND) licence, and they are hosted by MDPI on mdpi.com as a courtesy and upon agreement with Editores Medicorum Helveticorum (EMH).
Font Type:
Arial Georgia Verdana
Font Size:
Aa Aa Aa
Line Spacing:
Column Width:
Background:
Editorial

Indignez-Vous! Plädoyer Gegen Die Anpassung

by
Thomas F. Lüscher
Klinik für Kardiologie, Herzkreislaufzentrum, UniversitätsSpital und Institut für Physiologie, Kardiovaskuläre Forschung, Universität Zürich, CH-8091 Zürich, Switzerland
Cardiovasc. Med. 2011, 14(12), 335; https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01627
Submission received: 21 September 2011 / Revised: 21 October 2011 / Accepted: 21 November 2011 / Published: 21 December 2011

Unerwartete Post

Im Frühjahr 2011 erschien in Paris ein unauffälliges Büchlein mit dem auffälligen Titel «Indignez-vous!» [1]. Das Werk eines Veteranen der Résistance von 93 Jahren fand wider Erwarten einen enormen Widerhall, ja Stéphane Hessel wurde in Frankreich zum gefragten Gast von Talkshows und Zeitschriften. Wie konnte ein Schriftsteller mit Jahrgang 1917 die Leser heutiger Tage begeistern? Gewiss, die Franzosen sind Revolutionäre, haben damit Geschichte gemacht, doch leben wir—wie unsere Nachbarn auch—in einer Zeit der Anpassung, in der man schon fast schicksalshaft, und seit dem kläglichen Zerfall des Kommunismus mit unausweichlicher Einsicht, die scheinbar unumstösslichen Gesetze (die Politik spricht von alternativlosen Lösungen) der Ökonomie, der Globalisierung und mit ihr die um sich greifende Regulierung auf sich nimmt und erträgt.
Und gewiss: Bisher sind wir damit nicht schlecht gefahren: Noch nie in der Geschichte der Menschheit konnten wir so gesund so alt warden [2], noch nie hatten die Bürger eine derart ausgebaute soziale Sicherheit, gab es soviel Wohlstand in der westlichen Welt, konnten wir in den Ferien um die halbe Welt fliegen und ein nie gekanntes Ausmass an Freizeit geniessen. Warum also klagen? Und wirklich: Die Intellektuellen der 70er Jahre sind verstummt, als gäbe es nichts mehr zu bemängeln.

Ein Blick zurück

Und in diese scheinbar paradiesische Zeit trampelt ein Mann der Vergangenheit und ruft der Jugend zu: «Empört Euch!» Und mehr noch: Er wird gelesen und gehört—worin liegen die Gründe? Wie kann jemand auf der letzten Etappe seines Lebens, wie er selber vermerkt, zum Führer aufsteigen? Stéphane Hessel erinnert an die Werte, die seinen politischen Aufbruch bestimmt haben: die Résistance unter Jean Moulin, dem Helden der französischen Niederlage, der sich unter widrigsten Umständen gegen einen übermächtigen
Feind auflehnte, der scheinbar unausweichlich die Geschicke Europas bestimmte. Die Werte, die den zunächst aussichtslosen Kampf entfachten, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, wurden für Stéphane Hessel unerwarteterweise wieder aktuell. Der Lebensnerv der Résistance war die Empörung über eine unmenschliche Macht, über den braunen Terror, der plötzlich und anhaltend aufgrund seiner unüberwindlichen militärischen Stärke das Leben der Franzosen beschränkte, kurz ihnen Freiheit und Selbstbestimmung nahm. Und Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität waren die Menschenrechte, die sich die Franzosen in der Revolution erkämpft hatten—ihre Entwertung hatte den Widerstand entflammt.

Entwertung der Werte

Heute erleben wir—sicher auf ganz andere Weise—Ähnliches: Trotz—oder vielleicht gar wegen—der beeindruckenden Fortschritte in unserer Gesellschaft kam es zu einer Entwertung der Werte; diesmal nicht mit brachialer Gewalt, vielmehr aufgrund der schleichenden Machtübernahme des Geldes als alles bestimmendem Wert. Gewiss, Geld war immer bedeutsam (und das sicher mit einem gewissen Recht), doch konnte es bis in die Neuzeit nicht diese Dominanz erlangen, die ihr heute zusteht. Ja, die ersten Geldwechsler wie Amschel Moses Rothschild mussten ihr Geschäft noch im Judenghetto in Frankfurt verrichten; erst seine Söhne und Enkel stiegen in die höchsten Kreise der europäischen Gesellschaft auf. Wirklich bestimmend wurde das Banking aber erst in den letzten Dekaden—und damit war gewiss ein Wertewandel verbunden.
Nach dem Zerfall der Ideologien, blieb der Sachwert der letzte Halt. Die geistigen Verführer, André Glucksmanns maîtres penseurs [3], büssten aufgrund geschichtlicher Ereignisse ihre Glaubwürdigkeit ein. Der Intellektuelle, der sich—wie der letzte Grossdenker Jürgen Habermas meinte [4]—über das Bestehende aufzuregen und Mut zur Polarisierung zeigen müsse, verlor an Einfluss. Im deutschen Sprachraum sind sie wie Theodor W. Adorno, Ralf Dahrendorf und Max Frisch ohne Nachfolger geblieben und verstummt oder wie Günther Grass zum Kochen übergegangen. Die Empörung kam ausser Mode, umso mehr gewann das Banale an Einfluss: Im Gedruckten der Erregungsjournalismus und im Alltag das Geld. Immerhin vermag man sich mit Letzterem etwas zu kaufen: Wenn ideelle Werte versagen, gewinnt das Pekuniäre an Wert. What’s in for me? wurde zur Frage der Zeit, Solidarität zu einer Ablenkung vom wirklichen Tun.

Das neue Menschenbild

Das neue Bild, das wir uns seither vom Menschen machten, liess uns glauben, dass nur der Geldwert den arbeitenden Menschen beseelt. Wie man hört, sind Manager, wie sich Unternehmer heute nennen, nur bereit, sich zu bewegen, wenn sie üppige Saläre erhalten, von Abfindungen bei ihrem Scheitern nicht zu reden. Investmentbanker andererseits scheinen erst bei siebenstelligen Beträgen wach zu werden—der homo oeconomicus in Reinkultur. Der Wert der Arbeit selbst, Freude und Erfüllung im täglichen Tun, geriet in den Hintergrund—die Sinnstiftung des Berufs, der dem Begriff den Namen gab, die Berufung, sein Leben einer Aufgabe zu widmen und mit Stolz zu verrichten, scheint in Vergessenheit zu geraten. Mit dem Aufstieg des Geldes als Mass aller Dinge haben wir uns von den Werten, die uns einst geleitet haben, weit entfernt. Das hatte gravierende Folgen: Gering besoldete Berufe wie Lehrer verloren an Wert; Burn-outs und Nachwuchsmangel liessen nicht auf sich warten. Die Hausärzte sind die nächsten Opfer dieses kulturellen Wandels—gehörten sie einst zu den Stützen der Gesellschaft, drohen sie nach dem Verlust von Labor, Röntgen wie in anderen Ländern zum Concierge für die Kranken zu werden; eine Anlaufstelle, mehr nicht. Auch an den Hochschulen und an den Spitälern hat die Businesskultur ihre Spuren hinterlassen: Es fehlen Ingenieure und Chemiker, während die Hörsäale der Juristen, Ökonomen und Kommunikationswissenschaftler überlaufen. Die Forschungslabors können nur noch mit Postdocs aus allen Ländern betrieben werden—die Schweizer meiden zunehmend Curricula in Life Sciences und Technik [5], wo man mit mageren Einkommen beginnen muss. Und dabei sind es gerade diese Bereiche, in denen sich die Stärke der Schweiz von jeher zeigte, in denen Wert und Gut geschaffen wurde.
Chefarzt an einem Spital zu werden, war ein Lebensziel vieler Ärzte, auf welches viele mit fast übermenschlichem Einsatz hinarbeiteten. Eine interessante Arbeit mit dankbaren Patienten, motivierten Ärzten und einer hingebungsvollen Pflege und nicht zuletzt gesellschaftliche Anerkennung waren der verdiente Lohn. Heute kündigen frustrierte Chefärzte frühzeitig ihre Stellung, finden kleinere Spitäler nur mit Schwierigkeiten qualifizierte Führungskräfte, die Ökonomisierung der Medizin fordert auch hier ihren Preis.

Das Bild des Arztes

Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität waren gewiss die Grundwerte, die auch den Ärztestand beseelten: Das Wissen, das die Kunst ermöglichte, wurde selbst erschaffen, seine Verwendung für den Patienten autonom bestimmt. Die Deprofessionalisierung der Ärzte [6,7] ist das eine, die Ökonomisierung ihrer Arbeit das andere. Als das ärztliche Tun, der Dienst am anderen oder an der Wissenschaft, ein Wert an sich war, wurden Arbeitszeiten nicht vermessen, war die Bereitschaft des Standes nahezu unbegrenzt. Die Entlöhnung war gewiss nach Jahren der Weiterbildung gut, doch war sie nicht das Primum movens, vielmehr war es die Gewissheit, Sinnvolles zu tun, wie die gesellschaftliche Anerkennung, die sich damit verband. Die Banalisierung der Medizin machte den Arztberuf zu einem unter vielen—und damit die ärztliche Tätigkeit zu einer Arbeit im Stundenlohn, heute zu 50 Stunden die Woche mit festem Ansatz und Recht auf Kompensation. Die Ökonomisierung der Medizin ist die Antwort auf diese Kehre, wer die Stunden zählt, erhält die Stempeluhr als Nachgift. Die Anerkennung verliert sich in den Zahlen.
Eigentlich wäre der Arzt der Anwalt des Patienten. Der gute Arzt sorgt sich um seinen Patienten, sucht die beste Diagnostik, und auch da nur das Nötigste, wählt die richtige Behandlung und hat nicht Gewinn im Sinn. Dadurch und aufgrund der steigenden Möglichkeiten seiner Kunst hat der Berufsstand die Anerkennung erlangt, die ihm einst gebührte. Heute behandeln wir Budgets und nicht Patienten: Die Diagnosis-related Groups zwingen, möglichst wenig in möglichst kurzer Zeit zu tun, die Managed Care macht den sparsamsten Arzt zum besten seiner Zunft—zunehmend steht das Geld im Vordergrund unseres Tuns, es soll möglichst wenig für möglichst viel Verwendung finden. Bleibt der Arzt damit Anwalt des Patienten? Oder wird er nicht zunehmend durch Ökonomen, Manager und Krankenkassen bestimmt? Als Diener zweier Herrn ist er längst nicht mehr frei in seiner Wahl; Tarife, Zulassungen, Guidelines, Vertrauenssärzte und Budgets bestimmen heute sein Tun. Gewiss, die Ökonomisierung der Medizin ist Folge ihres Erfolges—das reiche Angebot hat seinen Preis, und wenn jeder sein Recht einlösen will, dann will die Politik das Sagen haben—wer zahlt, bestimmt. Doch wie weit soll das gehen? Ein vernünftiger Einsatz der Mittel wird kaum bestritten, wir wollen wissen, was eine Untersuchung, was ein Eingriff wirklich bringt und was er kostet. Deshalb wurde die evidenzbasierte Medizin zum Grundpfeiler ärztlichen Tuns. Doch wollen wir, dass die Logik des Geldes die Heilkunst zunehmend bestimmt, dass die Kassen entscheiden, welcher Patient, welche Behandlung verdient? Dass ein kaufmännischer Direktor die verfügbaren Medikamente, Geräte und Behandlungsmöglichkeiten von Spitalärzten diktiert?

Ersticken der Innovation

Ein Weiteres hat sich mit dieser Entwicklung ergeben: Neues kann zunehmend nur im Ringen mit Budgetvorgaben Verwendung finden, ja Innovation scheint vom Markenzeichen unserer Kultur zur Zumutung für Kassen und Politik zu werden—und damit wird dem Ärztestand eine wichtige Motivation genommen, vom Bedarf des Patienten nicht zu reden. Ein jüngstes Beispiel sind schonende katheterbasierte Aortenklappen: Wer sie Patienten zukommen lässt, muss mit Verlusten rechnen, weil Jahre vergehen (oder soll man sagen, bewusst verschleppt werden), bis die Bundesämter und Kassen reagieren. Selbst Rationierung macht nicht vor uns halt: Ökonomen beschränken das laufende Angebot; Patienten, welche Ende Jahr einen Schrittmacher brauchen, haben Pech gehabt, weil sich das reichste Land eine Sparpolitik am Mitmenschen verordnet hat. Der Arzt droht zum Anwalt des Budgets statt des Patienten zu werden—ja selbst das Bundesgericht nimmt Stellung zu fundamentalen Fragen: Das Leben eines Menschen? Sein Wert lässt sich selbstverständlich in der Währung der heutigen Tage messen: 100,000 CHF ist es wert, nicht mehr, aber auch nicht weniger [8].
Sicher, selbst das Unmessbare muss sich heute der Wertung stellen, wenn die Kosten aus dem Ruder laufen—so lesen wir es täglich in den Medien. Und gewiss, ganz von der Hand zu weisen ist diese Sichtweise nicht. Doch wie unausweichlich ist dies wirklich? Sollen wir einem Patienten einen Eingriff verweigern, solange wir alle noch im BMW, im Audi oder Mercedes zur Arbeit oder in die Ferien fahren? Steht die Bilanz so hoch über der Menschlichkeit? Die Empörung über die schleichende Rationierung in einem reichen Land bleibt erstaunlicherweise aus, so sehr haben wir uns an die Logik des Geldes gewöhnt.

Wertschöpfung statt Kosten

Die Diskussion um die Gesundheitskosten—und auch das ist empörend—kennt nur eine Sicht der Dinge: Die Kosten. Die Wertschöpfung, die von den Gesundheitsberufen ausgeht, bleibt unerwähnt: Ein erheblicher Teil des Bruttosozialproduktes wird damit jährlich in der Schweiz erschaffen, Hunderttausende verdanken dem Gesundheitsmarkt Einkommen und Stelle, die Produkte werden weltweit gekauft und schaffen Mehrwert für unsere Wirtschaft [9], das Wissen, das ihre Mediziner und Forscher schaffen, wird weltweit beachtet. Zuletzt, und eigentlich wäre dies das Wichtigste, erlaubt unser Gesundheitssystem die nach Japan zweithöchste Lebenserwartung der Welt [10]—wenn das keine Wertschöpfung ist, was wäre es dann?
Wenn das medizinische Angebot—so die alternativlose Ökonomie es wirklich erforderte—zu beschränken wäre, dann dürfte es jedenfalls nicht dort ansetzen, wo es um wirklich Kranke geht. Befindlichkeitsstörungen, Fitnesslektionen, Unbewiesenes wie Kräutermedizin und Homöopathie, die uns unser Bundesrat Didier Burkhalter doch noch grosszügig zukommen lässt, müssten selbst übernommen werden, um das zu erhalten, was es wirklich braucht. Das nice to have würde dann Privatsache, die Essentials for Survival eine Verpflichtung der Solidargemeinschaft.

Beengung und Freiraum

Ein Weiteres liesse sich zu Stéphane Hessels Werten sagen: Unsere Freiheit, die er zurückerobert hat, wird einer schleichenden Beschränkung unterworfen. Die political correctness hat uns zu Konformisten gemacht. Sicher, was Stéphane Hessel in seiner Zeit nicht sagen konnte, ohne sein Leben zu gefährden, dazu können wir uns heute ohne Angst frei äussern. Doch gibt es Beschränkungen, die im Mantel der Ethik daherkommen und uns dennoch ersticken: Wer wagt es an einer Party noch zu gestehen, dass er Tierversuche macht? Dass auf der Intensivstation Leben gerettet und nicht nur sinnlos verlängert werden? Dass Naturheilmittel nicht einfach wirken, weil sie natürlich sind [11]? Dass Chemie ein Segen für die Menschheit war und ist und mehr Leben gerettet denn vergiftet hat? Es ist empörend, wie der neue Glaube an eine heile Natur vernünftiges Denken verdrängt
Besonders deutlich ist dieser Rückschritt hinter die Aufklärung in der öffentlichen Diskussion um Alternativmedizin, Gentechnologie und Energie zu spüren. Von einem rationalen Diskurs, wie ihn Jürgen Habermas [12] einst vorschlug, sind wir weit entfernt—bevor man diskutiert, ist die korrekte Meinung bereits ausgemacht. Die Forderung, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen [13], ist scheinbar verklungen. Die mediale Mehrheit hat die Schweigespirale [14] längst in Bewegung gesetzt, kaum einer traut sich noch, die Gegenseite zu vertreten, will man nicht ausserhalb der Silent majority stehen. Dass im Gesetz der Nachweis einer Wirkung für Arzneimittel gefordert, dann aber Kräuter und Lösungen ohne Evidenz vergütet werden, widerspricht jeder rationalen Kultur, ist aber heute politisch korrekt. Die Gentechnologie bleibt von vielen unverstanden und wird verteufelt, weil das mediale Sprachrohr mit Angst statt mit Verständnis spricht. Die Energiedebatte wird von Panik getrieben, das Problem nicht überlegt analysiert und Lösbares von Unlösbarem getrennt. Mit gleichen Gründen hätte man nach dem Untergang der Titanic die Schifffahrt verbieten sollen—heute hat Radar und GPS schicksalshafte Gefahren gebannt, die einst scheinbar unvermeidlich zu Katastrophen führten. Die Wissenschaft ist lösungsorientiert und rational, die mediale Diskussion setzt auf Angst und Erregung, um ihre Produkte zu verkaufen. Der Rückgang der überlegten Diskussion, die Übermacht der Emotion über das Argument ist eine Schande für eine gebildete Nation wie die Schweiz und ihre Politik, die ihr gehorcht.

Dialektik der Aufklärung

Wo liegen die Gründe? Die Aufklärung hat sich nicht zur Gänze erfüllt, die Mehrheit versteht noch immer nicht, was uns bewegt. Bildung hat sich zu lange auf die Geisteswissenschaften und Kultur fokussiert. Dass Richard Wagner ein Komponist ist, hat jeder zu wissen, was ein Gen macht, dagegen nicht. Man blamiert sich sozial mit Unwissen über Kulturelles, während Wissenslücken über Natur, Kosmos und Körper ein Gentlemen’s Delikt geblieben sind. Die jüngst besonders deutliche Vernachlässigung der Naturwissenschaften, welche unser Weltbild und unseren Alltag in den letzten 500 Jahren mehr verändert haben als irgendetwas zuvor, behindert eine rationale Diskussion um ihre Verwendung und ihre Folgen –, denn was man nicht versteht, darüber kann man nicht vernünftig reden. Eine Unmündigkeit besteht weiter: Die Unfähigkeit, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen, ist nicht nur die Schuld des Einzelnen—wenn Schule und Gesellschaft das grundlegende Verständnis nicht vermitteln, Bildung ausserhalb wissenschaftlicher Erkenntnis möglich bleibt, wird der Diskurs von Halbwissen, Vorurteilen und Emotionen bestimmt. Hier besteht gewiss eine Bringschuld, die es einzulösen gilt. Denn Unverständnis schürt Angst und Angst behindert und reguliert.

Ausblick

Somit bleibt, ganz in Stéphane Hessels Sinne, in einer Zeit, die aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, Raum für Empörung. Seit jeher oszillieren wir zwischen Selbstund Fremdbestimmung, Freiheit und Regulierung, Geld und Wert, Emotionalität und Vernunft sowie Beschränkung und Solidarität. Dass wir heute wieder zu stark fremdbestimmt, reguliert, von Geld, Budgets und Rationierung geleitet werden, steht ausser Zweifel. Als Folge davon bewegt sich auch die Heilkunst und Forschung in unruhigen Gewässern: Der gute Samariter von einst, der bewunderte Heiler und geniale Entdecker der Neuzeit wird zunehmend zum Unternehmer seiner Klinik seiner Praxis, seines Instituts. Es stellt sich die Frage: Ist die Medizin ein Business [15]? Oder führt die scheinbar unbeschränkte Macht der Ökonomie zu einem Wertewandel, der das Innerste des Arztberufs betrifft? Sicher ist Geld von Nöten, doch kann es alleine weder Forschung noch Arzttum leiten. Nicht dass wir Geld unbedarft verschwenden sollten, doch müssen wir ein Anwalt des
Patienten bleiben—ein Anliegen, das im gegenwärtigen politischen Umfeld zum Abenteuer wird. Die Zermürbung, die von dieser Zukunft ausgeht, müssen wir überwinden, die Freiheit und Selbständigkeit des Arztberufs ebenso verteidigen wie eine rationale Diskussion um seine wissenschaftlichen Leistungen: Indignez-vous!

References

  1. Hessel, S. Indignez vous!—Deutsch: Empört Euch! Berlin: Ullstein; 2011.
  2. Die Zukunft der Langlebigkeit in der Schweiz. Bundesamt für Statistik, 2010.
  3. Glucksmann, A. Les Maîtres penseurs—Deutsch: Die Meisterdenker. Stuttgart: DVA; 1987.
  4. Habermas, J. Der Intellektuelle—Dankesrede bei der Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises, 2006.
  5. Lüscher, T.F. Wo s ind die Schweizer gebleiben? Cardiovasc Med. 2010, 13, 77–80. [Google Scholar]
  6. Unschuld, P.U. Der Arzt als Fremdling in der Medizin? München: W. Zuckschwerdt Verlag; 2005.
  7. Lüscher, T.F. Ist der Arzt ein Auslaufmodell? Cardiovasc Med. 2010, 13, 185–90. [Google Scholar]
  8. Bundesgerichtsentscheid B6 334/2010.
  9. Vaterlaus, S.; Telser, H.; Becker, K.; Suter, B. Bedeutung der Pharmaindustrie für die Schweiz. Olten/Basel: Plaut Economics; 2007. Available online: www.bakbasel.ch/downloads/services/reports_studies/2007/200710_ interpharma_impact.pdf.
  10. WHO World Health Statistics 2008.
  11. Lüscher, T.F. Ist die Medizin von Sinnen? Cardiovasc Med. 2010, 12, 277–81. [Google Scholar]
  12. Habermas, J. Theorie der kommunikativen Vernunft. Frankfurt: Suhrkamp; 1987.
  13. Kant, I. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. Hamburg: Felix Meiner Verlag; 1999, S., 20–27.
  14. Noelle-Neumann, E. Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung—Unsere soziale Haut. München: Langen-Müller; 1980.
  15. Lüscher, T.F. Ist die Medizin ein Business? Neue Zürcher Zeitung, 2008; S. 25. [Google Scholar]

Share and Cite

MDPI and ACS Style

Lüscher, T.F. Indignez-Vous! Plädoyer Gegen Die Anpassung. Cardiovasc. Med. 2011, 14, 335. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01627

AMA Style

Lüscher TF. Indignez-Vous! Plädoyer Gegen Die Anpassung. Cardiovascular Medicine. 2011; 14(12):335. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01627

Chicago/Turabian Style

Lüscher, Thomas F. 2011. "Indignez-Vous! Plädoyer Gegen Die Anpassung" Cardiovascular Medicine 14, no. 12: 335. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01627

APA Style

Lüscher, T. F. (2011). Indignez-Vous! Plädoyer Gegen Die Anpassung. Cardiovascular Medicine, 14(12), 335. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01627

Article Metrics

Back to TopTop