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Cardiovascular Medicine is published by MDPI from Volume 28 Issue 1 (2025). Previous articles were published by another publisher in Open Access under a CC-BY (or CC-BY-NC-ND) licence, and they are hosted by MDPI on mdpi.com as a courtesy and upon agreement with Editores Medicorum Helveticorum (EMH).
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Editorial

Fallpauschalen – DRG-System: Chance oder die Nächste Katastrophe? 1

HerzGefässZentrum Zürich, Klinik Im Park, Zürich, Switzerland
1
Die Ansichten dieses Viewpoints spiegeln die Meinung des Autors wider und nicht jene der Redaktion. Sie sind zur Anregung der Diskussion gedacht.
Cardiovasc. Med. 2007, 10(6), 189; https://doi.org/10.4414/cvm.2007.01253
Submission received: 29 March 2007 / Revised: 29 April 2007 / Accepted: 29 May 2007 / Published: 29 June 2007
«Fallpauschale» definiert eine bestimmte Vergütungsform von Gesundheitsleistungen. Im Gegensatz zu zeitraumbezogenen Vergütungsformen—Anzahl Tage in der Klinik—oder einer Vergütung einzelner Leistungen während einer Hospitalisation erfolgt bei Fallpauschalen die Vergütung von medizinischen Leistungen pro Behandlungsfall.
Im Fallpauschalen-System, auch «Diagnosis-related Groups» (DRG) genannt, werden Patienten anhand medizinischer und demographischer Daten in Fallgruppen eingeteilt. Die Fallgruppen dienen jedoch nicht der medizinischen Unterscheidung, sondern der Differenzierung des ökonomischen Aufwandes.
DRG wurden 1967 an der Yale-Universität entwickelt und in den USA ab 1983 im Medicare-Bereich verwendet. Die Verwaltungsorgane des deutschen Gesundheitswesens waren im Jahr 2000 durch die Politik aufgefordert, ein bereits existierendes DRG-System als Grundlage des aufzubauenden deutschen Systems auszuwählen. Die Entscheidung fiel auf das System des australischen Bundesstaates Victoria, genannt «Australian Refined Diagnosis Related Groups» (AR-DRG), welches einen Teilbereich medizinischer Leistungen nach dem Fallpauschalen-Prinzip abrechnete. Im Dezember 2005 entschied sich die Schweiz zur Einführung eines DRG-Systems auf Grundlage des deutschen Modells. Durch den Prozess der Helvetisierung (Anpassung an die schweizerische Behandlungswirklichkeit) sollen daraus die Swiss-DRG entstehen.
Ich möchte hier weder auf die weitere Geschichte, noch auf die verschiedenen Varianten von DRG-Systemen eingehen, sondern, basierend auf meiner Erfahrung im deutschen Gesundheitswesen, die Frage diskutieren, wem DRG nützen, bzw. ob ein Swiss-DRG den Patienten, den Kliniken, der Ärzteschaft oder wem überhaupt nützen könnten. Anders gefragt: brauchen wir in der Schweiz DRG?
Die Antwort sei vorweggenommen: aus meiner Sicht benötigen wir keine DRG. Das DRG-System ist zutiefst unethisch und unmoralisch. DRG nützen weder den Patienten, noch den Kliniken, im Gegenteil. Sie alimentieren eine sonst schon überbordende Bürokratie, welche im DRG-System sinnlose und unbegrenzt ausufernde Tätigkeitsfelder findet, und damit den Papierkrieg zum Schaden unserer Patienten ins Absurde steigern wird.
«Praktische» Alltagsbeispiele aus dem Klinikalltag mögen diese Behauptung unterstützen:
Beispiel 1: Wird ein Patient nach einem operativen Eingriff, während 17 Tagen mechanisch beatmet, fällt er in eine bestimmte Fallpauschalen-Kategorie, z.B. in die «23000-Euro-Kategorie». Ab dem 22. Beatmungstag würde er in die «38000-Euro-Kategorie» rutschen. Das ist die Summe—bzw. die Leistung—welche die Klinik für 17 bzw. für 22 Tage mechanische Beatmung vergütet erhält.
Könnte dieser Patient am 18. postoperativen Tag von der mechanischen Beatmung entwöhnt und extubiert werden, wird der «Klinik- Administrator», der «Abteilungsökonom», «der Klinik-eigene Verwaltungsassistent», oder kurz: der Klinik-eigene «DRG-Beauftragte», unbelastet von medizinischem Wissen, auf der Visite erklären, dass dieser Patient erst am 22. Tag nach der Operation extubiert werden darf—um die höhere Fallpauschale zu erlangen.
Beispiel 2: Ein kritisch kranker Patient wird von der Beatmung entwöhnt. Sein Zustand verschlechtert sich. Es wird offensichtlich, dass er «es nicht schaffen» wird. Aus ethischen Gründen würde man den schicksalhaften, natürlichen Verlauf abwarten und den Patienten nicht mehr reintubieren. Aus Gründen der DRG ist es aber besser, den Patienten noch einmal zu intubieren und ihn am Tubus, also beatmet, sterben zu lassen, weil ein Patient, der nicht-intubiert und nicht-mechanischbeatmet stirbt, weniger «einbringt», als ein Patient, der an der künstlichen Beatmung stirbt. Der Patient wird aus finanziellen Gründen intubiert und—man muss es so formulieren, wie es ist: finanziell lohnend zu Tode beatmet.
Konklusion: im DRG-System ist es aus finanziellen Gründen besser, den Patienten lieber etwas länger an der Beatmungsmaschine zu halten und eine beatmungsassoziierte Pneumonie mit einer Mortalität von 30% in Kauf zu nehmen, als die Beatmungspauschale zu verpassen. Wenn er zudem sterben muss, tut er das «vorzugsweise» am Beatmungsgerät.
Beispiel 3: ein respiratorisch gerade noch kompensierter Patient an der Grenze zur Beatmung wird aus finanziellen Gründen lieber gleich intubiert, um für den Patienten mehr Geld zu erhalten. Eine erfolgreiche, konservative Behandlung, welche dem Patienten die risikoreichere maschinelle Beatmung ersparen könnte, lohnt sich nicht. Warum auch? (1.) Weil eine Beatmung besser vergütet wird als eine optimale konservative medikamentöse und physiotherapeutische Behandlung, welche die Beatmung vermeidet; (2.) weil die Zuteilung von Stellen im Intensivbereich davon abhängt, wie viele Patienten mit wie vielen Beatmungsstunden behandelt werden. Und: eine besondere Blüte treibt ein nach dem Chefpfleger benannter Score, der die Beatmungsstunden auf der Intensivstation jeden Tag direkt in resultierende Stellenkürzungen im Personalschlüssel umrechnet. Die entscheidende Frage auf der morgendlichen Visite also wird lauten: «Sind wir in der ‹range›?».
Beispiel 4: Bei den Nierenersatzverfahren auf einer Intensivstation werden die Anzahl Stunden oder Tage einer kontinuierlichen Hämofiltration über Sonderentgelte bezahlt. Je länger die Laufzeit der Hämofiltration, desto lukrativer. Ein frühzeitiger Nierenstartversuch lohnt sich finanziell in keiner Weise.
Beispiel 5: ein Patient tritt zu einer Operation einer Stenose der rechten Karotis-Bifurkation ein. Die kardiale Abklärung ergibt eine per se operationspflichtige koronare 3-Gefäss-Erkrankung. Werden beide Eingriffe simultan durchgeführt—zunächst die Thrombendarteriektomie (TEA) der Karotis-Bifurkation und in gleicher Sitzung die koronare Revaskularisation—wird nur der Aufwand für die Eintrittsdiagnose vergütet, d.h., die TEA der Karotis-Bifurkation. Finanziell ist es lohnender, zunächst die TEA der Karotis-Bifurkation alleine durch zu führen und den Patienten—kardiales Risiko hin oder her—nach Hause zu lassen, um ihn dann nach einem durch die DRG zeitlich vorgeschriebenen Intervall von 14 Tage erneut zur koronaren Revaskularisation zu rehospitalisieren. Motto: medizinisch erforderliche Behandlungsabläufe werden aus finanziellen Gründen mutwillig unterbrochen.
Beispiel 6: Medizinisch sinnvolle Verlegungen von einer Klinik in die andere werden tunlichst vermieden, weil bei einer Verlegung nur die entlassende Klinik die Fallpauschale abrechnen darf. Die Verlegende geht leer aus.
Beispiel 7: bei einem Patienten auf der Pneumologie besteht der begründete Verdacht auf ein blutendes Magenulkus. Es dürfte schwierig sein, einen gastroenterologischen Konsiliarius zu finden, welcher bereit ist, am Samstagabend z.B., zu gastroskopieren, weil die entlassende Klinik—die Pneumologie—die Fallpauschale kassiert, die Leistung des Gastroenterologen jedoch nicht bezahlt wird.
Wenn Sie diese Beispiele für konstruiert oder gesucht erachten, muss ich Sie enttäuschen. Sie entspringen und entsprechen der so genannten DRG-Welt. DRG sind zutiefst unethisch und unmoralisch. Sie richten sich direkt gegen die Patienten und gegen die Qualität der medizinischen Leistungen. Mehr noch, sie sind ebenfalls gegen die Kliniken gerichtet, da sie die Einnahmen der Kliniken je nach Spezialität zwischen 5–30% reduzieren. Dies wiederum erhöht den «Druck auf die Ärzteschaft, defizitäre und administrativ aufgeblasene Institute durch entsprechende Anpassung der Medizin und maximale Fallzahlenak-kumulation zu subventionieren», wie mir ein deutscher Kollege eindrücklich bestätigte.
Mehr noch, die Einführung der DRG wird eine jetzt schon hypertrophe Administration noch vergrössern und eine sinnlose Datenak-kumulation verlangen, um mit immer mehr administrativ Beschäftigten zu kontrollieren, dass die medizinischen Leistungserbringer immer weniger medizinische Leistung erbringen. Auf diese Art und Weise werden noch mehr finanzielle Mittel, welche dringend für medizinische Massnahmen am Patienten benötigt werden, in einen sinnlosen Papierkrieg umgeleitet. Noch mehr Bürokraten werden mit noch mehr Prämiengeldern noch enger kontrollieren wollen, dass im Gesundheitswesen noch weniger medizinisch Leistungen erbracht werden.
Selbst die unverblümte Ankündigung dieses «für die Schweiz weit übleren Szenarios»—Zitat SonntagsZeitung vom 17. September 2006—scheint hierzulande niemanden wachzurütteln, die Ärzteschaft nicht—und die FMH schon gar nicht.
Unsere ethische Verpflichtung, dem Patienten nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen, würde uns verpflichten, der Einführung der Fallpauschalen in der Schweiz einen Riegel zu schieben. Der Einwand, dass Missbräuche dieser Art bei «uns sicher nicht vorkommen werden», ist realitätsfremd. Wenn wir uns nicht für unsere Patienten einsetzen, indem wir uns klar gegen diese Forderungen einer ausufernden Administration stellen—wer dann?
Diese Kritik darf jedoch nicht als Persilschein für unser derzeitiges Gesundheitswesen gesehen werden. Die Darstellung, wie ein medizinisch und finanziell effizientes Gesundheitswesen in einer hoch entwickelten Industrienation auf der Basis einer akzeptierten und gesunden Ethik funktionieren könnte, sprengt den Rahmen dieses Beitrages. Ein solches Ziel kann—wie im Rahmen meines Referates «Ethische Fragen in industrialisierten Gesundheitssystemen—ein Widerspruch?», vorgetragen am diesjährigen Alpensymposium in Interlaken, nur erreicht werden, wenn alle, welche am Gesundheitswesen beteiligt sind, um der Sache willen endlich konstant formulierte Irrtümer ablegen und sich gemeinsam um die notwendige Reform unseres Gesundheitswesen kümmern.

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MDPI and ACS Style

Vogt, P.R. Fallpauschalen – DRG-System: Chance oder die Nächste Katastrophe? Cardiovasc. Med. 2007, 10, 189. https://doi.org/10.4414/cvm.2007.01253

AMA Style

Vogt PR. Fallpauschalen – DRG-System: Chance oder die Nächste Katastrophe? Cardiovascular Medicine. 2007; 10(6):189. https://doi.org/10.4414/cvm.2007.01253

Chicago/Turabian Style

Vogt, Paul R. 2007. "Fallpauschalen – DRG-System: Chance oder die Nächste Katastrophe?" Cardiovascular Medicine 10, no. 6: 189. https://doi.org/10.4414/cvm.2007.01253

APA Style

Vogt, P. R. (2007). Fallpauschalen – DRG-System: Chance oder die Nächste Katastrophe? Cardiovascular Medicine, 10(6), 189. https://doi.org/10.4414/cvm.2007.01253

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