Die angeborenen Herzfehler, die häufigste angeborene Erkrankung, sind eine Erfolgsgeschichte der Medizin: Während vor 60 Jahren nur 20% der Kinder mit komplizierten Herzfehlern erwachsen wurden, erreichen heute dank der grossen Fortschritte in der Medizin über 90% das Erwachsenenalter. Nicht nur die Innovation der Herzchirurgie führte zu einer revolutionären Entwicklung auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler, sondern auch die Fortschritte in der Herzanästhesie, die Einführung der Intensivstation und die Verbesserung der bildgebenden Diagnostik in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erlaubten den Herzchirurgen erst die Durchführung komplizierter Eingriffe.
Angeborene Herzfehler—eine Chronische Erkrankung
Obwohl vielen Kindern das Überleben ins Erwachsenenalter ermöglicht wird, werden sie mit ihrer zum Teil sehr komplexen Anatomie und Morphologie sowie Pathophysiologie des Kreislaufsystems mit vielschichtigen Problemen ins Erwachsenenalter entlassen, die nicht nur auf das kardiovaskuläre System beschränkt sind. Stark ahnte bereits vor knapp 20 Jahren das auf die Erwachsenenmedizin zukommende Problem und stellte die Frage: «Do we really correct congenital heart defects?» [
1]. Wie wahr war seine Voraussehung! Die
meisten Herzfehler werden
nicht korrigiert, sondern nur
repariert! Wer von Korrektur eines angeborenen Herzfehlers spricht, hat die speziellen Aspekte der kongenitalen Vitien noch nicht verstanden. Eine Korrektur beinhaltet eine normale Lebenserwartung, eine normale Ventrikelfunktion, keine weiteren Eingriffe bzw. keine regelmässige Nachbetreuung. Bei der Anwendung dieser breit akzeptierten Definition sind nur sehr wenige, einfache Herzfehler korrigiert, wenn sie im Kindes- oder Jugendalter operiert worden sind: die Vorhof- und Ventrikelseptumdefekte sowie der offene Ductus arteriosus.
Eine neue Population—eine weltweite Herausforderung
Die enormen Fortschritte der Medizin wurden somit zu einer grossen Herausforderung in der Erwachsenenmedizin. Genaue Zahlen zur Inzidenz und Prävalenz von angeborenen Herzfehlern existieren weder in der Schweiz noch in Europa oder anderen Kontinenten. Die verfügbaren Zahlen beruhen auf Schätzungen und Berechnungen mit Berücksichtigung der verbesserten Überlebensrate bzw. gleichzeitigen Mortalität. Die Inzidenz von mittelschweren und schweren kongenitalen Vitien, die eine Betreuung durch einen in angeborenen Herzfehlern spezialisierten Kardiologen benötigen, beträgt 0,6% oder 6 Kinder auf 1000 Lebendgeburten [
2]. In den USA wurden vor rund fünf Jahren die Anzahl Erwachsener auf 420 000 Patienten berechnet, die einer mittleren und hohen Risiko-Gruppe angehören und somit eine Betreuung in einem Zentrum für angeborene Herzfehler benötigen. In Kanada betrug die entsprechende Population 55 000 Erwachsene; jedes Jahr kommen in Kanada 1000 Patienten dazu. Kanada hat mit dem CACH-Network (Canadian Adult Congenital Heart Network) vor 10 Jahren – mit 5 supraregionalen Kompetenzzentren plus 10 regionalen Zentren – ein Versorgungsnetz aufgebaut, während andere Länder weit davon entfernt sind und vor einem grossen Versorgungsproblem für diese Patienten stehen [
3,
4].
Die Spitze des Eisberges
In der
Schweiz gibt es schätzungsweise
20 000 Erwachsene mit einem angeborenen Herzfehler. Wie in Europa und Amerika erhalten auch in der Schweiz nur ca. 20–30% der Erwachsenen Betreuung durch den Spezialisten [
5]. Wo ist die grosse Zahl der Patienten, die nicht in ein Betreuungsnetz eingebunden sind? Sie befinden sich überall: sie leben in der Gemeinde ohne Nachkontrolle oder befinden sich in hausärztlicher Betreuung ohne spezielle, auf ihren Herzfehler ausgerichtete Nachkontrolle. Viele erscheinen nicht selten als Notfälle an den spezialisierten Kliniken [
6].
Die Gesellschaft investiert sehr viel Geld in eine flächendeckende Betreung der Kinder. Was macht die Erwachsenenmedizin, wenn diese Kinder und Jugendlichen einst erwachsen werden und eine qualitativ ebenbürtige Betreuung in der Erwachsenenmedizin suchen? Die Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern sind hier, die Erwachsenenmedizin ist aber ungenügend vorbereitet – weltweit! Die Gründe sind vielschichtig: (1.) Während Jahren glaubten Kinder, Eltern und Ärzte, der Herzchirurg habe den Herzfehler mit der Operation korrigiert und das Kind «geheilt» – die meisten sind aber nur repariert; das Herz und der Kreislauf sind nicht normal und implizieren ernste Langzeitprobleme; (2.) der Übergang von der Pädiatrie zur Erwachsenenmedizin war während vielen Jahren nicht organisiert – und ist es teils heute noch nicht; (3.) die Erwachsenenmedizin erkennt nach vielen Jahren erst jetzt, dass sie mit einer neuen Population von Patienten konfrontiert ist, auf die sie nun ungenügend vorbereitet ist; (4.) viele interessieren sich nicht für diese Erwachsenen, weil ihre Betreuung mit den komplexen medizinischen und psychosozialen Problemen aufwendig und Spezialwissen notwendig sind; (5.) die finanzielle Entschädigung widerspiegelt nicht den Aufwand; der ethisch verwerfliche Vorwurf, dass diese Patienten nur kosten, ist bekannt; (6.) Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern sind medizinisch interessant, man kann aber wegen der heterogenen Population keine grossen Studien publizieren wie bei Herzinsuffizienz oder akutem koronarem Syndrom – sind deshalb für die akademische Laufbahn nicht interessant.
Folgende vier Punkte sind entscheidend für eine Verbesserung der Betreuung dieser Patienten: (1.) Verbesserung der Transition, dem Übergang von der Pädiatrie zur Erwachsenenmedizin; (2.) Öffentlichkeitsarbeit; (3.) Weiter- und Fortbildung; (4.) Bereitstellen der notwendigen strukturellen und personellen Ressourcen in der Erwachsenenmedizin.
Transition—der Jugendliche wird ein Erwachsener
Die Kinder und Jugendlichen sind in ein ausgezeichnetes Versorgungsnetz eingebettet, wurden aber in der Vergangenheit beim Eintreten ins Erwachsenenalter nicht selten sich selbst überlassen und fielen in ein «Versorgungsloch». Die Transition ist nicht nur eine Übergabe von Akten an den Erwachsenen-Kardiologen, sondern die Transition ist ein jahrelanger Prozess, eine Vorbereitung des Jugendlichen auf das Leben als Erwachsener mit Übernahme von Verantwortung [
7,
8]. Weil in der Erwachsenenmedizin entsprechende Ansprechpartner fehlten oder teils immer noch fehlen, werden Patienten gelegentlich bis weit über das 20. Altersjahr in der pädiatrischen Umgebung betreut, was diesen Erwachsenen keineswegs gerecht wird. Nicht nur das Umfeld (Spielzimmer, Einrichtungen, Kindertoilette usw.) ist inadäquat, sondern der Adoleszente kann sich von der Dreieck-Beziehung «Arzt – Eltern – Kind» lange nicht lösen und sich in der pädiatrischen Umgebung nicht zum selbständigen Erwachsenen mit Eigenverantwortung entwickeln. Die Übergabe an die Erwachsenenmedizin – je nach Entwicklungsstand zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr – muss organisiert und strukturiert erfolgen, was aber ein funktionierendes Betreuungskonzept in der Erwachsenenmedizin voraussetzt.
Öffentlichkeitsarbeit
Wir müssen nicht nur die Patienten selbst, sondern auch die breite Öffentlichkeit und Entscheidungsträger an den Kliniken, Universitäten und in der Politik über die Kluft zwischen den vorhandenen und den immer weiter wachsenden strukturellen und personellen Bedürfnissen informieren. Die Herzen unserer Patienten sind nicht normal, haben Restdefekte und die Patienten sehen sich mitz.T. ernsten Langzeitproblemen konfrontiert [
6,
9,
10]. Diese Langzeitprobleme beinhalten nicht nur organische, strukturelle und hämodynamische Komplikationen, sondern reflektieren auch psychosoziale Langzeitfolgen von nicht chirurgischen Wunden und Verletzungen, die im Kindesalter gesetzt wurden [
9,
11,
12,
13]. Viele Ärzte, Patienten und Angehörige sind sich dieser Tatsache zu wenig oder gar nicht bewusst [
14,
15]. Die Entscheidungsträger auf allen Ebenen tragen eine grosse Verantwortung zur Schaffung des notwendigen Umfeldes und Strukuren. Letztlich müssen die Patienten selbst ihre Eigenverantwortung übernehmen und als Interessengruppe den notwendigen Druck auf die Öffentlichkeit und Entscheidungsträger ausüben, wenn diese ihre Verantwortung gegenüber einer der schwächsten Patientengruppe im Gesundheitswesen ungenügend oder gar nicht wahrnehmen.
Weiterbildung, Weiterbildung, Weiterbildung …
Die wachsenden Anforderungen sind nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Art: Die zunehmende Komplexität der Patienten und ihrer Probleme erfordert eine intensive Weiter- und Fortbildung auf allen Ebenen. Wir müssen nicht nur geeignete, junge Ärzte zu Spezialisten in angeborenen Herzfehlern weiterbilden, sondern auch für Grundversorger und Kardiologen Fortbildungsveranstaltungen organisieren, weil sie ein wichtiges Glied im Betreuungskonzept und Betreuungsnetz sind. Die wichtigsten Partner im Gesundheitswesen – die Grundversorger – müssen vermehrt in Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen über die Langzeitprobleme dieser Patienten informiert werden. Diese Serie von Artikeln, die ich für diese Zeitschrift zusammenstellte, soll ein Beitrag zum besseren Verständnis der Bedürfnisse dieser Patienten sein [
8,
9,
16,
17,
18,
19].
Betreuungskonzept – Notwendige Strukturen und Ressourcen
Die Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern erwarten heute Hilfe und eine kompetente Betreuung, die wir ihnen schulden. Zur grossen, von der Gesellschaft in diese Kinder gemachte Investition muss Sorge getragen werden. Es ist eine ethische Verantwortung nicht nur der Ärzte – mit dem Eid des Hippokrates – sondern der ganzen Gesellschaft, diesen Patienten, die seit der ersten Stunde ihres Lebens ein Handycap tragen, dieselbe Aufmerksamkeit und hoch qualifizierte medizinische Betreuung zukommen zu lassen wie Patienten mit erworbenen Erkrankungen und z.T. entsprechendem Risikoverhalten. Ein Betreuungskonzept bestehend aus drei Ebenen, die eng miteinander vernetzt sind: Grundversorger, regionale WATCH-Sprechstunde/-Kliniken und überregionales Kompetenzzentrum ermöglichen am besten eine flächendeckende kompetente Betreuung [
19]. Ein überregionales Kompetenzzentrum versorgt eine Population von 3–10 Millionen.
Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern dürfen nicht Patienten zweiter Klasse bleiben. Kongenitale Vitien sind ein Kontinuum oder eine chronische Erkrankung vom fetalen Leben bis ins Erwachsenenalter. Wir sind für eine lebenslange, spezialisierte Betreuung in einem ausgebauten Versorgungsnetz mit klaren Qualitätsanforderngen verantwortlich.