Neuronale Konstruktion der Wirklichkeit
Kants Gedanken können mit den Erkenntnissen der modernen Neurobiologie neu verstanden werden [
3]. Die Welt, wie wir sie sehen, ist konstruiert, weil sie durch neuronale Netzwerke unseres Hirns und den molekularen und zellulären Aufbau unserer Sinnesorgane bestimmt wird. Von der elektromagnetischen Strahlung nehmen wir nur Wellenlängen von 380 bis 780 nm wahr. Die Farbe Rot ist uns nicht an sich gegeben, vielmehr wird in unseren Sinnesorganen und der Sehrinde eine Frequenz von etwa 780 nm entsprechend codiert – ganz wie wir den mitralen Einfluss des Blutes in der Doppler-Echokardiographie «sehen». Farbblinde sehen noch weniger, weil ihnen eine Mutation im CNGA3-oder CNGB3-Gen den Zugang zu einer bunten Welt verschliesst. Die Evolutionsbiologie liefert uns eine Vielfalt von Beispielen andersartiger Anpassungen an die Aussenwelt, wie das Insektenauge, das ein Spektrum von Ausschnitten, aber keine dreidimensionale Wirklichkeit liefert. Die Fledermäuse wiederum konstruieren aus Schallwellen mit Frequenzen zwischen 9 und 200 kHz ihren Raum, in dem sie leben. Wir sähen so die Wirklichkeit in düsterem Schwarz-Weiss, wie sie uns die 2-D-Echokardiographie liefert. Auch die zeitliche Auflösung einander folgender Ereignisse ist im Schneckenhirn unvergleichbar länger als in demjenigen einer Fliege. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist unzweifelhaft eine neuronale Konstruktion, da sich ihre Wahrnehmung innerhalb der Sinnesorgane und Schaltkreise unseres Hirns bewegt und die
Welt-an-sich uns unzugänglich bleibt [
4]. Wahrnehmen, Erkennen und Handeln sind genauso Anpassungen an die Umwelt wie unsere Beine und Hände – die Biologie kommt vor der Philosophie.
Die zweite Stufe
Noch schwieriger wird das Erkennen, wenn wir uns auf Andere abstützen. Der Mensch ist das einzige Wesen, das eine Sprache und später eine Schrift entwickelt hat. Das gesprochene Wort und danach das geschriebene und gedruckte liessen uns an der Erfahrung anderer teilhaben, Wissen von Menschen erwerben, die wir nie gesehen haben, ja, die Jahrhunderte vor uns gelebt haben – Sprache war der erste Schritt zur globalen Welt [
5]. Damit hat sich der Mensch einen bedeutenden Vorteil verschafft; die Sprache und das über sie vermittelte Wissen und Können erwiesen sich als gestaltende Kraft der Evolution.
Doch diese Entwicklung barg auch neue Gefahren: Wie verlässlich ist die Information, die wir von Dritten erhalten? Gewiss, die Mitglieder der eigenen Familie, des Stammes, in dem wir leben, halten wir für verlässlich. Ja, der Herdentrieb, der uns in Vorzeiten einen Überlebensvorteil gewährte, beschränkt gar unser Urteilsvermögen: Wird in einer Gruppe von allen behauptet, einer von zwei gleich langen Bleistiften sei länger, gibt der unwissende letzte Proband nach einigem Zögern zu, dass die Mehrheit recht hat. Dies liess uns auch Schlachtenberichten der eigenen Meldeläufer glauben, obgleich diese gerne mit Heldentaten überreichlich ausgeschmückt wurden – eine zweite Art der Konstruktion der Wirklichkeit.
Heute wird uns das Bild der Wirklichkeit von den Medien (von lateinisch
medius, in der Mitte stehend, vermittelnd) gestaltet: Wie wir Afghanistan, den Irak, die Finanzkrise sehen, wird von den medialen Gestaltern in Zeitungen, Radio und Fernsehen bestimmt. Ihre Weltsicht fliesst automatisch und unbemerkt in unser Bild der laufenden Ereignisse mit ein. Die Wahrheit des Geschriebenen und Gesagten bleibt für uns ebenso ungewiss wie das Ungesagte und das Ungezeigte, das uns vorenthalten bleibt – je mehr die Journalisten aber gegenseitig voneinander abschreiben, umso kohärenter und schliesslich glaubwürdiger wird das Ganze. Andere Sichtweisen fallen der Schweigespirale zum Opfer [
6].
Auswahl und Darstellung
Bei Informationen aus zweiter Hand spielt die Auswahl und Darstellung der Information die entscheidende Rolle – die Wirklichkeit ist vermittelt. Jägerlatein gibt es seit Bestehen der Menschheit; es hat zur Selbstdarstellung, eigenen Überhöhung und Mythenbildung gedient. Ob Winkelried am 9. Juli 1386 wirklich seine berühmten Worte sprach, ist ungewiss; für die Heldenverehrung war es entscheidend. Sagen und Mythen überhöhen oder erfinden spektakuläre Ereignisse unter Verwendung der Darstellungsmittel des Theaters und blenden das Banale aus; solche Geschichten wollen Gefühle wecken, uns mit Aussergewöhnlichem bewegen und eine gemeinsame Sicht der Welt und in der Folge eine Identität von Gruppen schaffen.
Die Medien haben diese Technik im harten Kampf um Aufmerksamkeit (und damit Auflagen, Einfluss und Geld) wirksam übernommen [
7]. Die Auswahl der Themen ist das Erste: Nur was erregt, taugt zur Story. In der Kunst der Massenattraktion gilt es das auszuwählen, was bewegt, was Angst macht, ärgert oder entsetzt [
8] – alles Aussergewöhliche zieht die Leser an. Und gewiss: Nur was über den Hippocampus und die Amygdala läuft, setzt neuronale Netzwerke in Gang, die den Leser an die Zeilen fesseln, ihn das Programm betrachten und nicht weiterzappen lassen.
Das Nächste ist die Darstellung des Sachverhalts, die unterhaltsam
(«Infotainment»), dramatisierend und möglichst personalisiert zu erfolgen hat. Als Folge geht die «Bericht-»Erstattung, welche anstelle von Information «Erregungsproduktion» vorsieht, wie Peter Sloterdijk [
9] sich ausdrückte, weitgehend dazu über, die Wirklichkeit zu gestalten, ja zu erfinden. In einer überreizten Gesellschaft, in der nicht nur ständig etwas geschieht
(breaking news), sondern im Kampf um Aufmerksamkeit Ungewöhnliches auch geschehen muss, bleibt wenig Platz für Ausgewogenheit; ja, sie ist ausser Mode gekommen, man kann sie sich in der heutigen Gegenwartsschrumpfung nicht mehr leisten – nur das überzeichnet Deutliche findet die Aufmerksamkeit, die es zum Überleben im Blätterwald braucht [
10]. Wichtig ist beim Schreiben daher, möglichst die höchstvermuteten Opferzahlen einzufügen, die tiefsten Grenzwerte für Gifte und andere Unbill anzunehmen, Einzelfälle zu einer möglichen Epidemie hochzureden und das relative und nicht das absolute Risiko zu vermelden. Der Rest, der nicht zur Story passt, wird einfach weggelassen. So wurden wir zu zukünftigen Opfern von SARS, BSE und der Schweinegrippe hochgeredet, während die Impfung gefährlicher Kinderkrankheiten wie die Masern zum Teufelszeug erklärt wurde [
11]. Dass es sich dabei um wissenschaftlichen Betrug handelte [
12], darüber wurde danach weniger sichtbar berichtet. Der jüngste Streich sind Berichte über Krebs durch Angiotensinrezeptorblocker und Blutungen durch einen neuen Thrombinhemmer. Im ersten Fall wurden nur ausgewählte Studien berücksichtigt [
13], im zweiten keine Kontrolldaten von mit Marcoumar behandelten Patienten angegeben – die Panikmache lohnte sich für die Medienschaffenden, nicht aber für Patienten, die ihre Medikamente absetzten.
Die vierte Macht im Staat
Seit der Aufklärung hat sich die Gewaltentrennung in Exekutive, Legislative und Judikative in den Verfassungen nach und nach durchgesetzt. Charles-Louis de Montesquieu (1689–1755) hatte in seiner 1748 erschienenen Arbeit
L’Esprit des lois [
14] dieses Prinzip zur staatsbürgerlichen Notwendigkeit erhoben. Heute treffen wir auf eine vierte, unkontrollierte Kraft: Wir leben im Zeitalter der Mediokratie [
15], in der die Parteien und mit ihnen die gewählten Vertreter in Exekutive und Legislative durch die Macht der Meinungsmacher an den Rand gedrängt werden. Die demokratische Politik ist auf ihre mediale Darstellung angewiesen. Unglücklicherweise sind die Entscheidungswege der Demokratie den Gesetzen ihrer medialen Inszenierung entgegengesetzt: Während die Politik lange, manchmal allzu lange Entscheidungswege, Kommissionsarbeit mit ungewissem Ausgang und stundenlange Debatten vorzuweisen hat, setzen die Medien auf Schnelligkeit, auf das Neuste vom Neuen, auf das Hier und Jetzt – es bleibt kaum Zeit, sich mit der Sache zu befassen. Gleiches gilt im Umgang mit Wissenschaft und Medizin: Komplexes lässt sich schlecht transportieren, Unfälle und Fehler dagegen sehr – die Ausgewogenheit bleibt auf der Strecke. Innerhalb dieses Dilemmas muss die Wirklichkeit inszeniert werden: Am besten eignen sich Feindund Bedrohungsbilder wie die Reichen und Fremden, David und Goliath (oder die Kleinen gegen die Grossen) und andere Sündenböcke mehr – mit der Personalisierung haben die Medien das Heft in der Hand. Die Überzeichnung von Gefahren und Sünden hat ein grosses Aufmerksamkeitspotential und erfreut sich grosser Beliebtheit bei Journalisten und Politikern. Dem einen vermittelt sie eine schöne Geschichte, den anderen eine Gelegenheit zur Profilierung: Als Folge haben wir Motionen, parlamentarische Anfragen und neue Regulierungen zu ertragen. Wird ein Kind medienwirksam von einem Hund gebissen, führt dies zu Prüfungen für Hundehalter; wird ein Kind im Auto verletzt, müssen alle bis ins Jugendalter in einem Kindersitz die Schweiz befahren; wird ein Kind von Verwandten ungenügend betreut, müssen alle Babysitter zu einer Prüfung antreten. Kommt es schliesslich zu einem Atomunfall, erfordert der Druck der Ereignisse unmittelbares Handeln, ohne dass Zeit zum Überlegen ausgewogener Lösungen bliebe. Die Forschung an Tier und Menschen hat aufgrund dieser Mechanismen eine fast groteske Regulierung zu ertragen, die die Innovation zu ersticken droht.
Die Sicht der Wissenschaft
Gewiss: Auch die Wissenschaft konstruiert ihre Wirklichkeit. Mit Hypothesen und Daten versucht sie sich dem Ding-an-sich zu nähern. Auch sie wählt die Dinge aus, die ihr liegen – nicht alles lässt sich wissenschaftlich untersuchen: Nur, was sich messen, wiederholt beobachten lässt, ist ihr zugänglich, das Einmalige bleibt ihr verschlossen. Die Forschung lebt von der Wiederholbarkeit ihrer Experimente, der Messbarkeit der Daten. Damit ist sie weit gelangt: Nicht länger sind es unberechenbare Götter, die den Weltenlauf bestimmen, vielmehr messbare Kräfte, die die Welt zusammenhalten. Die Seuchen des Mittelalters sind von der Strafe Gottes zu Infektionen gereift, die unter Nutzung von Antibiotika und Impfungen als Bedrohung schon fast in Vergessenheit gerieten. Die Physik erlaubt uns, nach New York zu fliegen, die Chemie hat uns Desinfektionsmittel und Kunststoffe gebracht, die Biologie hat die Geheimnisse des Lebens ergründet.
Die Wirklichkeit der Wissenschaft ist besonders konstruiert, seit wir uns des Mikroskops und Fernrohrs, der Röntgenstrahlen und Schallwellen bedienen, um sie zu erfassen. Es gibt keine theorieunabhängige Wirklichkeit, in den Naturwissenschaften ebenso wenig wie in der Medizin; vielmehr fussen sie auf einem Modell-abhängigen Realismus. Wissenschaftliche Theorien stellen auf Paradigmata ab, innerhalb deren Daten erhoben und interpretiert werden [16, 17]. Eine theorieunabhängige Beobachtung gibt es nicht: Die Vorstellung eines Mikroorganismus als Ursache der Tuberkulose war zu Robert Kochs Zeiten nicht überzeugend – die unsichtbaren Organismen, die danach der Krankheit zugrunde lagen, mussten erst mit einer neuen Methode gefärbt und unter dem Mikroskop sichtbar gemacht werden [
18]. Erst ihr Nachweis in Tuberkeln und ihre Übertragung auf gesunde Tiere machten die Vorstellung überzeugender (kochsche Regeln) [
19]. Richtig akzeptiert wurde sie aber erst mit der Einführung einer chemischen Substanz, dem 1943 durch Albert Schatz und Selman Waksman entdeckten Streptomycin [
20], die sowohl die Mikroorganismen abzutöten als auch die Patienten zu heilen vermochte [
21]. Somit ist es die Erklärungsund Voraussagekraft einer Theorie, ihre Vereinbarkeit mit den verfügbaren Daten und ihre Fähigkeit, das zukünftige Verhalten des Systems vorauszusagen, die überzeugen. Kurz: Die praktischen Auswirkungen sind die Legitimation der Wissenschaft, gerade in der Medizin. Und vor allem lassen sich wissenschaftliche Aussagen überprüfen, sie stellen sich – im Gegensatz zur medialen Information – der Verantwortung.
Überleben im Informationsdschungel
Die unbegrenzte Verfügbarkeit von Information hat die Frage nach ihrer Bedeutsamkeit und Verlässlichkeit neu gestellt. Lohnt sich die Lektüre und, wenn ja, ist ihr Inhalt wahr? Handelt es sich um die «Angst der Woche» [
22] oder eine wirkliche Bedrohung? Ist der Skandalisierte schuldig oder ein willkommener Anlass für eine süffige Story? Ist eine Entdeckung ein Durchbruch oder Ausdruck einer erfolgreichen Selbstdarstellung?
Die Einordnung von Information ist eine Leistung der Urteilskraft. Worauf stützen wir uns ab? Zunächst vertrauen wir auf verlässliche Quellen, Medienprodukte und Journalisten, die wir kennen.
A question of trust gilt auch hier [
23]. Eltern, Freunden, anerkannten Experten vertrauen wir mehr als uns Unbekannten. Die
Neue Zürcher Zeitung hat mehr Reputation als der
BLICK – Gleiches gilt in der Medizin: Das
New England Journal of Medicine und andere peerreviewed Zeitschriften [
24] lassen uns Neues eher glauben als Berichte im
Journal of Irreproducible Results. Nähe und Ansehen schaffen Vertrauen.
Doch Urteilskraft umfasst mehr: Es gilt, das Geschriebene einzuordnen; ist es viel oder ist es wenig, ist es wahrscheinlich oder übertrieben? Hier stützen wir uns auf unser Wissen und auf Erfahrung ab, auf den Vergleich mit Erlebtem und Erlerntem. Ein kritischer Geist lässt sich durch Zahlen nicht verführen: 2,5 mSv für eine Computertomographie sind gleich viel Strahlung wie 0,0025 Sievert. Wenn wir wissen, dass dies in etwa der Jahresbelastung eines jeden entspricht und Vielflieger und Piloten noch mehr Strahlung ausgesetzt sind, tönt dies weniger bedrohlich, selbst wenn die angesehene Neue Zürcher Zeitung uns Krebsgefahr vorgaukelt. Der geneigte Leser muss sich selbst bei guten Zeitungen eine kritische Brille aufsetzen, will er sich nicht in eine konstruierte Welt zweiter Ordnung entführen lassen. Die Verzerrungstechniken, die die Informationsgesellschaft mit sich bringt, muss man sich laufend in Erinnerung rufen, will man die Wirklichkeit in Umrissen noch erkennen können – doch ohne eigenes Grundwissen geht es nicht.
Beim Lesen wissenschaftlicher Artikel gilt ein Gleiches: Wurden genügend Patienten untersucht, ist das Design, die Methodik angemessen? Ist der Befund auch relevant und ist er neu? Im Unterschied zu Presseprodukten lässt sich hier das meiste nachsehen, im Abschnitt über die Methodik und im Pubmed, das uns verwandte Publikationen bringt. Ohne Urteilskraft geht es aber auch hier nicht: Was wichtig ist, lässt uns das Erlernte und die Erfahrung wissen – der gute Arzt muss Neues richtig lesen lernen, zum Nutzen seiner Patienten.
Gewiss, die Wahrheit ist eine Konstruktion – doch wenn wir das wissen, können wir damit auch umgehen, sie angemessen nutzen. Ein kritischer Geist ist in der Informationsgesellschaft besonders gefragt.