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Cardiovascular Medicine is published by MDPI from Volume 28 Issue 1 (2025). Previous articles were published by another publisher in Open Access under a CC-BY (or CC-BY-NC-ND) licence, and they are hosted by MDPI on mdpi.com as a courtesy and upon agreement with Editores Medicorum Helveticorum (EMH).
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Editorial

Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge †

by
Philipp Sarasin
Historisches Seminar der Universität Zürich, Zürich, Switzerland
Das Verhältnis von Selbstsorge und staatlicher Intervention im 19. und 20. Jahrhundert.
Philipp Sarasin (*1956 in Basel) ist Ordinarius für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, und Gründungsmitglied des Zentrums «Geschichte des Wissens» der Universität und der ETH Zürich. Arbeitsgebiete: Geschichte des Wissens, Theorie der Geschichtswissenschaft, Körper- und Sexualitätsgeschichte, Stadtgeschichte, Geschichte des Kalten Krieges. Wichtigste Publikationen: Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. Sarasin P, Sommer M, Hrsg. Stuttgart: Metzler; 2010. – Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2009. – Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920. Sarasin P, Berger S, et al., Hrsg. Frankfurt/M: Suhrkamp; 2006. – Michel Foucault zur Einführung. 4. Aufl. 2010, chin. Ausgabe 2010. Hamburg: Junius-Verlag; 2005. – «Anthrax». Bioterror als Phantasma. Frankfurt/M: Suhrkamp; 2004. (US-Ausgabe: Harvard UP; 2006.) – Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt/M: Suhrkamp; 2003. – Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt/M: Suhrkamp; 2001. – Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Sarasin P, Tanner J, Hrsg. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1998. – Stadt der Bürger. Bürgerliche Macht und städtische Gesellschaft, Basel 1846–1914. 2., überarbeitete u. erw. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 1997.
Cardiovasc. Med. 2011, 14(2), 41; https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01564
Submission received: 23 November 2010 / Revised: 23 December 2010 / Accepted: 23 January 2011 / Published: 23 February 2011
Ein historischer Rückblick bis zurück an die Schwelle zum 18. Jahrhundert mag für medizinische Praktiker müssig erscheinen. Angesichts beschleunigter wissenschaftlicher Innovation und eines präzedenzlosen Informationsüberflusses aus rezenter Forschung, mit dem Ärzte täglich konfrontiert werden, scheint die Geschichte der Medizin oder spezifisch die der Gesundheitsvorsorge des 19. Jahrhunderts längst nichts mehr mit der Gegenwart zu tun zu haben, geschweige denn uns irgendwelche Einsichten vermitteln zu können. In den folgenden Zeilen soll demgegenüber die These vertreten werden, dass die heute fortschrittlichste Form der individuellen Gesundheitsvorsorge in einigen Aspekten wieder an Konzepte des 19. Jahrhunderts anknüpft. Die rekonstruierbare historische Erfahrung – die einen kursorischen Durchgang durch einige der wichtigen Etappen und Aspekte dieser Geschichte erfordert – könnte helfen, die heutige Situation besser zu verstehen und zu zeigen, dass das, was Ärzte einerseits und Laien andrerseits im Feld der Prävention heute tun, was sie richtig und wichtig finden, vielleicht aber auch, was als besonders neu und einzigartig erscheint, nicht neu ist, sondern auf einer spezifischen Traditionslinie liegt.
Der Begriff der Prävention bezeichnet ein zumindest aus drei Gründen sehr komplexes Phänomen: Erstens hat Prävention eine individuelle Dimension: es geht um das eigene Sichverhalten, um die individuelle Art, sein Leben zu leben und dabei seinen Körper zu pflegen bzw. ihn möglichst gesund zu erhalten. Das erfordert, wie ich noch ausführen werde, eine individuelle Selbstsorge, die am Anfang aller modernen Gesundheitspflege steht. Zweitens erhält der Begriff Prävention, wie ich ebenfalls noch ausführlicher darstellen werde, seit spätestens der Mitte des 19. Jahrhunderts eine politische, d.h. eine kommunale oder staatliche Dimension. In der Moderne wurde es zu einer der zentralen staatlichen Aufgaben, für die Gesundheit ganzer Bevölkerungen besorgt zu sein. Ein dritter Grund, warum der Begriff der Prävention komplex ist, sehe ich darin, dass seit dem 20. Jahrhundert und vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg Prävention mit einer statistisch modellierten Vorstellung von Risiko verbunden ist. Ich werde im letzten Teil meiner Überlegungen argumentieren, dass damit das Konzept der Prävention die individuelle Selbstsorge zur heutigen, postmodernen Form entwickelt wurde, bei der die mögliche Krankheit bzw. das medizinisch definierte Risiko der Erkrankung die Grenze zwischen gesund und krank verwischt hat und eine neue Form von Gesundheitscoaching ermöglicht – oder erzwingt.
Doch beginnen wir im 18. Jahrhundert, das heisstim Zeitalter der Aufklärung und damit nach konventioneller Auffassung zu Beginn dessen, was man die Moderne nennt. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich eine sich laufend verstärkende Propaganda von Ärzten beobachten, mit immer derselben, doppelten Hauptbotschaft: der Einzelne soll zu seiner Gesundheit Sorge tragen – und: eine gute Regierung würde auch von sich aus alles tun, damit die Bevölkerung möglichst gesund bleibe (vgl. dazu den schon älteren, aber klassischen Aufsatz von William Coleman: «Health and Hygiene in the Encyclopédie. A Medical Doctrine for the Bourgeoisie» [1]). Das sahen nicht nur die Ärzte so. Für viele Philosophen des Aufklärungszeitalters galt: Gesundheit ist der oberste Wert – denn wenn der Mensch nicht gesund ist, hat alles andere keinen Sinn mehr, sind auch alle politischen Ziele wertlos [2]. Dies ist zweifellos ein zentraler Aspekt der Säkularisierung. Wenn – sehr idealtypisch gesprochen – «Gott tot ist», beginnt der Bürger des späten 18. Jahrhunderts sein Leben auf das Diesseits auszurichten und die Gesundheit, das Wohlergehen, die Schönheit und der Genuss des Körpers als obersten Wert und Ziel seines Lebens anzunehmen. Auch wenn Gott im 19. Jahrhundert dann wieder zum Leben erweckt wurde und die Moderne insgesamt religiöser war und ist, als man üblicherweise behauptet hat, so hat sich doch diese aufklärerische Wertschätzung der Gesundheit bis heute gehalten. Selbst religiöse Menschen können sich dem Zwang – und der Verlockung – gesund zu sein und ihren Körper zu pflegen, um ihn zu geniessen, bis heute kaum entziehen.
Doch was heisst das konkret? Wie hält man sich gemäss diesen aufklärerischen Vorstellungen gesund? Die Gesundheitsvorstellung des Aufklärungszeitalters basierte auf der antiken Medizin, nämlich auf der Hygiene als Lehre vom Gleichgewicht und der Mässigung [3]. Diese Lehre besagt – ausgehend von Galen bzw. Schülern bis weit ins 19. Jahrhundert hin –, dass immer viele, innere und äussere Faktoren dafür verantwortlich seien, ob ein Körper gesund ist oder krank wird. Hygiene war in der Antike und dann explizit wieder im 18. Jahrhundert die Lehre der Regulation aller Einflüsse, die auf den Körper einwirken – und zwar gemäss dem Schema der galenischen sex res non naturales, nämlich (1.) Licht und Luft, (2.) Umgebungsbedingungen und alles, was an die Körperoberfläche gelangt, (3.) Ernährung, (4.) Arbeit und Ruhe, (5.) Ausscheidungen inkl. Sexualität, und (6.) Sinneseindrücke und Gemütsbewegungen. Die Gesundheit war diesem Verständnis – bez. diesem diskursiven Schema – entsprechend das «Gleichgewicht» aller innerer und äusserer Reize auf all diesen sechs Feldern. Durch die Wahl der Ernährung oder des Wohnorts, oder durch das richtige Verhältnis von Arbeit und Erholung könne der Einzelne – das heisst namentlich der einzelne Bürger – den Körper im «Gleichgewicht» halten. Der Schrecken dieser bürgerlichen Gesundheitskonzeption waren daher der Mangel einerseits und der Exzess andrerseits; das moralisch-hygienische Ziel dem entsprechend die Mässigung und die Selbstkontrolle.
Gemäss dieser Gesundheitslehre war also der Einzelne der Herr seines Schicksals: Er steuert seinen Körper selbst – darin erweist er sich als autonomes Subjekt, als Herr seiner selbst, als selbstverantwortlicher Bürger. Es ist leicht erkennbar, dass dies parallel geht mit sehr ähnlicher Vorstellung vom Bürger als ökonomisch selbständig Handelnder, wie auch vom Bürger als politisch freies und die Geschicke des Gemeinwesens mitbestimmendes Subjekt. So, wie man selbst für die Mehrung seines Wohlstandes zu sorgen hatte – und politisch dafür kämpfen sollte, dass der Staat dem Bürger das auch ermöglichte –, sollte man auch für die Sicherung der eigenen Gesundheit besorgt sein. Es ist daher auch kein Zufall, dass der französische Medizin-Philosoph Constantin François Volney 1793 verkündete, die erste Form des Eigentums sei – der Körper [4]. Damit aber war impliziert, dass das Subjekt seinen Körper genau zu beobachten habe, ihn auf die kleinsten Zeichen von Unregelmässigkeit absuchen müsse. Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle waren die alltagspraktischen Konsequenzen dieses bürgerlich-liberalen Präventionskonzeptes: ein Ideal also der Selbststeuerung nicht nur des eigenen Körpers, sondern des eigenen Lebens überhaupt.
Anthropologen, Soziologen und Historiker haben in den letzten Jahrzehnten in einigen Studien zur Kulturgeschichte der Gesundheit gezeigt, dass dieses Konzept bürgerlicher Selbstregierung in einer doppelten Hinsicht kritisch auf seine Wirkung hin untersucht werden muss. Zum einen darf die oft grosse Differenz zwischen normativem Anspruch und alltagspraktischer Wirklichkeit nicht übersehen werden. Dennoch zeigen bisherige Studien, dass diese hygienischen Präventionskonzepte durchaus auch das individuelle Verhalten zumindest von Bürgerinnen und Bürgern beeinflusst haben [5]. Zum anderen muss betont werden, dass dieses normative Konzept präventiver Selbstführung sozial-konstruktive Effekte hat, das heisst: Es schafft Inklusionen und Exklusionen, es definiert richtiges und falsches Verhalten und schafft so Gruppen von Menschen, die sich der Gesundheitsprävention angemessen verhalten, und solche, die das nicht tun (die Debatte über Rauchverbote hat das jüngst wieder vor Augen geführt). Prävention ist, mit anderen Worten, sozial und politisch nie unschuldig, sondern schreibt in den Raum einer Gesellschaft immer auch neue Differenzen und Trennlinien ein, Trennlinien, die von einer wie auch immer verstandenen Konzeption von Gesundheit her entwickelt werden [6]. Die Präventionskonzepte der Eugeniker, auf die ich noch kurz zurückkommen werde, haben dies im 20. Jahrhundert in dramatischer Weise gezeigt.
Doch es sind noch weitere Präzisierungen oder Einschränkungen vorzunehmen. Denn das bürgerlich-liberale Präventionskonzept der Individualhygiene wurde im 19. Jahrhundert von zwei Seiten her ergänzt und zum Teil auch bekämpft; ich will nur ganz kurz darauf hinweisen. Erstens ist hier die Ergänzung der Individualhygiene durch die öffentliche Hygiene seit dem frühen 19. Jahrhundert zu nennen. Entscheidend in diesem Zusammenhang war, dass das bürgerliche-aufklärerische Selbstverständnis des präventiven Bürgers seit den 1830er Jahren durch die seither regelmässig wiederkehrenden Cholera-Epidemien in Europa nachhaltig erschütterte wurde. Denn angesichts der Cholera wurde in brutaler Klarheit deutlich, dass die Massregeln der Hygiene als individuelle Gesundheitsprävention nicht funktionierten – auch gesundheitsbewusste Bürger starben wie die Fliegen an der als nicht beherrschbar gefürchteten Seuche; sowohl die traditionelle Medizin mit ihren Klistieren und Aderlässen wie auch die Diätetik waren machtlos [7].
Seit den 1830/1840er Jahren entwickeln die Hygieniker daher ein neues Konzept: die «hygiène publique», die öffentliche Hygiene. Dabei ging es im Wesentlichen darum, gleichsam die alten hygienischen Rezepte auf die Ebene der Bevölkerung zu skalieren: Konzepte wie sauberes Wasser, gesunde Wohnorte, unverfälschte Ernährung, genügend Erholung bei der Arbeit und ähnliches werden nun in den Lehrbüchern der Hygieniker als Themen konzipiert, die die Lebensbedingungen vor allem der städtischen Bevölkerung verbessern sollen. Unter dem Druck der Cholera-Epidemien wurden schrittweise und zum Teil gegen grosse Widerstände staatliche Präventionsmassnahmen durchgesetzt, die – und das ist der entscheidende Punkt – unabhängig waren vom Verhalten des Einzelnen. Ich will das nur kurz andeuten: In erster Linie und als wichtigste Massnahmen die Einführung von Kanalisationsanlagen sowie das Ersetzen von Trinkwasserbrunnen durch Wasserleitsysteme in allen europäischen Städten bis ca. 1914; dazu kamen städtebauliche Eingriffe wie strengere Bauvorschriften für Wohnbauten, die Tendenz zur Trennung von Gewerbe- bzw. Industrie- und Wohnzonen, die Verbreiterung von Strassen, um Licht und Luft in die Städte zu bringen, die Anlage von Grünzonen, usw. [8].
Der zweite Punkt, den ich kurz erwähnen möchte, stand anfänglich mehr in Konkurrenz zur alten Hygiene als in ihrer Ergänzung, wie es sich dann im 20. Jahrhundert entwickelte: die Rede ist vom Aufstieg der Bakteriologie seit den 1880er Jahren. Denn die Bakteriologen um Louis Pasteur in Frankreich und Robert Koch in Deutschland haben das Konzept der hygienischen Selbstsorge in einer doppelten Weise fundamental angegriffen, in theoretischer wie praktischer Hinsicht. Zum einen behaupteten sie – das ist der theoretische Aspekt –, dass nicht eine kaum überschaubare Zahl von inneren und äusseren Faktoren über Gesundheit und Krankheit entscheiden, sondern jeweils nur ein einziger kleiner Mikroorganismus, den man nicht sehen kann, der aber mit Hilfe der Medizin vernichtet bzw. vor dem Eindringen in den Körper gehindert werden muss. Ein Faktor gegen viele Faktoren, und ein Faktor, den man ursächlich bekämpfen kann: das war am Ende des 19. Jahrhunderts der vielleicht für das Ansehen der Medizin entscheidende, jedenfalls überaus einschneidende Wandel im Verständnis von Krankheit und Gesundheit [9]. Denn damit wurde die Verantwortung für die Gesundheit in massiver Weise – und bekanntlich durchaus voreilig – den Ärzten übertragen bzw. von den Ärzten in Anspruch genommen. Das war der praktische Aspekt: Denn dieser Anspruch führte zu einer massiven schulmedizinischen Delegitimierung der alten Hygiene, das heisst der alten Selbstsorge- bzw. Präventionskonzepte durch die bakteriologisch aufgerüstete Schulmedizin (und dies bis weit ins antibiotische Zeitalter nach 1945 hinein, als dieser Triumph endgültig schien).
Wie hat sich nun diese ambivalente Situation der alten hygienischen Selbstsorge im 20. Jahrhundert weiter entwickelt? Ich sehe – neben dem erwähnten vorläufigen Triumphzug der Antibiotika – im Wesentlichen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit vier Tendenzen:
  • Die alte hygienisch-diätetische «Sorge um sich» – um es mit Michel Foucault zu sagen [10] – verschwindet nicht, sondern erscheint in verschiedensten Formen immer wieder, so zum Beispiel in der Lebensreform-Bewegung seit 1900 [11], in verschiedenen Spielarten der Alternativ-Bewegungen nach dem 2. Weltkrieg oder heute in der Wellnessund Fitness-Bewegung, die auch die individuelle Verantwortung für die Gesundheit hervorhebt und betont. Man muss aber zweifellos festhalten, dass diese im 20. Jahrhundert so virulente «Sorge um sich» von den 1950er bis in die 1980er Jahre, als die Medizin wie erwähnt dank der Antibiotika in der Lage war, Infektionskrankheiten tatsächlich wirksam zu bekämpfen, zumindest vorübergehend nachgelassen hatte und ins subkulturelle (und «alternativmedizinische») Abseits verdrängt wurde [12].
  • Der Ausbau staatlicher Regulationen der Gesundheit im Rahmen internationaler Konferenzen und Organisationen – zuerst durch die internationalen Hygienekongresse, wo nationalstaatliche Konzepte abgeglichen wurden, dann im Rahmen des Völkerbundes und später in der WHO als einer Unterorganisation der UNO. Auf diesem Weg entstand auf internationaler Ebene ein dichtes, sich laufend erweiterndes Normen- und Regelwerk für die Steuerung der Gesundheitsverhältnisse von ganzen Bevölkerungen. Die dadurch zum Teil nur angeregten, zum Teil koordinierten, zum Teil direkt organisierten Massnahmen reichten bekanntlich von Empfehlungen zum Gesundheitsschutz für Arbeitnehmer in der Industrie über Präventionskampagnen gegen den Alkohol- oder Tabakkonsum bis hin zu eigentlichen epidemiologischen Feldzügen wie etwa die Ausrottung der Pocken 1978 [13].
  • Als dritte, sehr mächtige Tendenz des Präventionsdenkens im 20. Jahrhundert sei auf die schon erwähnte Eugenik hingewiesen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis weit in die 1950er Jahre hinein träumten viele Ärzte in den meisten europäischen Ländern wie auch in den USA – und selbstverständlich auch in der Schweiz – den Traum dereugenischen Verbesserung des Menschen [14]. Gesundheit, so wurde gesagt, sei nicht die Gesundheit des Einzelnen, sondern sei immer nur die Gesundheit sei’s der Rasse, der Nation, oder auch der «Menschheit» im Ganzen – und diese Gesundheit sei vor allem abhängig von der guten oder eben schlechten erblichen «Anlage» – und nicht vom individuellen Verhalten [15]. In ihrer handlungspraktischen Konsequenz bedeutete Eugenik daher, dass man über die staatliche Kontrolle der individuellen Sexualität – etwa durch Sterilisation – die so genannt schlechten Erbanlagen von der Fortpflanzung ausschliessen könne und auch solle. Ich muss nicht ausführen, welche schrecklichen Konsequenzen diese Ideen im 20. Jahrhundert teilweise hatten.
  • Während nun die internationalen Bemühungen und die Eugenik in erster Linie nicht auf das Verhalten des Einzelnen fokussierten und die Eugenik zumindest als staatliches Programm heute auch weitgehend delegitimiert ist, werden die Dinge bei der vierten Tendenz im Feld der Gesundheitsprävention im 20. Jahrhundert noch einmal komplexer. Es geht dabei um den Einbezug des Risiko-Begriffs und namentlich des Risikofaktoren-Modells in das Präventionskonzept. Ich begebe mich damit allerdings auf ein Gebiet, auf dem heutige Ärzte sich viel besser auskennen als ein Historiker, dem dazu aber einige abschliessende Bemerkungen dazu aus seiner Perspektive gestattet seien.
Der Begriff des Krankheitsrisikos meint bekanntlich, kurz gesagt, die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum oder bestimmte Bevölkerungsgruppen wegen bestimmter Verhaltensweisen, Erbanlagen oder Umweltexpositionen in absehbarer Zukunft eine bestimmte Krankheit entwickeln werden, und die Wissenschaft versucht, das Gewicht der einzelnen Faktoren statistisch zu schätzen. Das könnte eine ganz innerwissenschaftliche oder innermedizinische Betrachtung bleiben. Doch weil das Risikofaktorenmodell zu einem Präventionskonzept wurde, wird die für das Individuum nicht erkennbare, sondern allein durch den Arzt abschätzbare Disposition zu einer möglichen Erkrankung in den Lebensvollzug auch schon des gesunden Individuums eingerückt [16]. Das hat erkennbar zur Folge, dass sich die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit verwischen. Dies nicht nur, weil nicht mehr klar ist, wann die Krankheit beginnt – sie beginnt gemäss dieser Vorstellung schon bei der falschen Steuerung der relevanten Faktoren, ohne das die Krankheit sich zu manifestieren bräuchte. Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit verwischt sichauch dadurch, dass das Wissen um die mögliche Krankheit das Selbstgefühl und möglicherweise auch das Verhalten des Individuums verändert.
Man könnte sagen: das ist genau das Ziel jeder guten Prävention und allen Risikobewusstseins. Zweifellos, und es steht mir auch nicht zu, darüber zu urteilen. Ich will zum Schluss nur als Historiker bemerken, dass sich hier zwei historische Traditionslinien auf eine eigentümliche Weise verbinden. Denn zum einen ist bei diesem neuen Gesundheitscoaching offensichtlich wieder das alte, bürgerlich-liberale Selbst gefragt, das fähig ist, sich selbst zu beobachten, Verantwortung für seinen Körper zu übernehmen und sein Verhalten zu steuern. Dazu ist allerdings zu bemerken, dass die Hygieniker des 19. Jahrhundert in ihren Ratgeberbroschüren und Gesundheitsbüchlein nie zu sagen vermochten, wo denn nun genau das «Gleichgewicht» der Gesundheit liege – welches Verhalten das genau richtige sei, usw. Vielmehr haben die Hygieniker immer betont, dieses Gleichgewicht und damit die Gesundheit seien vollkommen individuell: Was für den einen ein Exzess darstelle, sei für den anderen zuträglich.
Davon sind wir heute, zum anderen nun, aber weit entfernt. Heute weiss die Wissenschaft bzw. wissen die Ärzte, was für das Individuum das richtige Verhalten ist – oder sie glauben es zumindest zu wissen. Damit aber bürdet das Risikofaktoren-Modell der Prävention dem Einzelnen die Last auf, sein Verhalten selbst und auf Gedeih oder Verderb an wissenschaftlich begründetes Wissens anzupassen, dabei nur noch gecoacht durch seinen Arzt, im Wesentlichen aber in der Form eines Selbstmanagements (wie etwa Asthma-Patienten es zu praktizieren haben). Dass der Einzelne dabei nicht nur die Möglichkeit, sondern implizit schon fast die Pflicht hat, im Internet sein Wissen über die Risikofaktoren und über mögliche Krankheitsverläufe zu erweitern, sei am Rande erwähnt. Der Staat schliesslich, so scheint mir, tritt in diesem Szenario vor allem als Vermittler und Verstärker der Risikofaktoren-Botschaft auf; er ist weniger direkt intervenierend und autoritär, sondern ist appellierende Instanz gegenüber einem Individuum, das sein Verhalten selbst steuern soll (die direkt das Verhalten regulierenden Rauchverbote sind hier eher die Ausnahme). Ich vermag nicht abzuschätzen, wie sich dieser neue und dabei doch so alte Akzent auf der individuellen Selbststeuerung in Zukunft entwickelt. Klar scheint aber doch, dass damit eine neue Wendung im Verhältnis von individueller Vorsorge, staatlicher Intervention und ärztlichem Wissen erreicht wurde: Eine Wendung zurück ins liberale 19. Jahrhundert, könnte man sagen – angereichert allerdings mit dem Wissen und den medialen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts.

References

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  7. Vgl. zur Geschichte der Cholera im 19. Jh. aus einer grossen Menge an Literatur: Hamlin, C. Cholera, the Biography; Oxford University Press: Oxford, 2009. [Google Scholar]
  8. Vgl. als Überblick dazu Sarasin, P. Die moderne Stadt als hygienisches Projekt. Zum Konzept der «Assanierung» der Städte im Europa des 19. Jahrhunderts. In Stadt & Text. Zur Ideengeschichte der Stadt und des Städtebaus im Spiegel theoretischer Schriften (18.–21. Jahrhundert); Lampugnani, M.V., Frey, K., Perotti, E., Eds.; Gebrüder Mann- Verlag: Berlin, 2011; pp. 99–112. [Google Scholar]
  9. Vgl. dazu die klassische Studie von Bruno Latour, B. The Pasteurization of France; University Press: Cambridge (MA); Harvard, 1988; (= Les microbes: guerre et paix suivit de irréductions, Paris, 1984). [Google Scholar]
  10. Foucault, M. Die Sorge um sich. (Sexualität und Wahrheit, Bd. 3. Paris: 1984); Suhrkamp: Frankfurt/M, 1986. [Google Scholar]
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  12. Vgl. dazu den Überblick von Jütte, R. Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den Unkonventionellen Therapien von Heute; C. H. Beck: München, 1996. [Google Scholar]
  13. Siehe zur Einführung Lee, K. The World Health Organization (WHO); Routledge: Abingdon, Oxon, 2009. [Google Scholar]
  14. Bashford, A. The Oxford Handbook of the History of Eugenics; Oxford University Press: Oxford, 2010. [Google Scholar]
  15. Der klassische Text für die deutsche Rassenhygiene – mit einem expliziten Angriff auf die bürgerliche Individualhygiene – stammt von Ploetz, A. Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältniss zu den Humanen Idealen, Besonders zum Socialismus (Grundlinien einer Rassen-Hygiene, I. Theil); S. Fischer-Verlag: Berlin, 1895. [Google Scholar]
  16. Vgl. zu diesem gesamten Komplex Lengwiler, M.; Madarász, J. (Eds.) Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik; Bielefeld: transcript; 2010. [Google Scholar]

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Sarasin, P. Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge. Cardiovasc. Med. 2011, 14, 41. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01564

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Sarasin P. Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge. Cardiovascular Medicine. 2011; 14(2):41. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01564

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Sarasin, Philipp. 2011. "Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge" Cardiovascular Medicine 14, no. 2: 41. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01564

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Sarasin, P. (2011). Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge. Cardiovascular Medicine, 14(2), 41. https://doi.org/10.4414/cvm.2011.01564

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