Als Andrej Amalrik 1969 seinen provokanten Aufsatz «Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?» unter grossen Gefahren veröffentlichte, schüttelten auch die wohlgesinntesten Leser den Kopf – wie konnte ein kluger und geprüfter Mann eine solche Frage stellen? Zur Überraschung aller lag Amalrik mit seiner Prognose nur wenig daneben: Genau 5 Jahre später als vorhergesagt gab ihm die «Chronik der laufende Ereignisse» Recht. Entsprechend sei eine weitere unzeitgemässe Frage erlaubt.
Stärken und Schwächen
Wird es so weitergehen? Der Skisport hat uns bereits eine Lektion erteilt. Während in den 1970er Jahren die Nation mit Russi und Colombin fieberte, sich in den 1980ern an Zurbriggen’s Erfolgen freute, stellt sich heute die Frage, welcher Österreicher gewinnt. Auch im Fussball kommen wir trotz nationaler Begeisterung über die Vorrunden nicht hinaus. Die Swissair wird inzwischen unter gestutztem Namen von Deutschen betrieben, die UBS ist in den Wogen der Finanzkrise fast zerschellt. Wo können wir noch punkten? Sicher nicht im Geschäft unserer Ahnen: Die Landwirtschaft kann ohne Subventionen nicht überleben, die hiesige Debatte um den Milchpreis gerät in der globalen Welt zu einem peinlichen Theater. Dennoch lassen wir uns die Bestellung unserer Landschaft Milliarden kosten. Wo die Schweiz noch immer gewinnt, sind Services und Innovation. Swissness schafft noch immer Vertrauen, im Moment vielleicht weniger im Banking (doch auch das wird sich wieder ändern), sicher aber bei Industrieprodukten, Tourismus oder der Medizin. Auch die Innovation ist trotz des Konservatismus seiner Bewohner in der Schweiz gut zu Hause: Sowohl die Zitationen seiner Forscher wie der Innovationsindex, die Zahl der Patenten und Start-ups, ja selbst die Anzahl von Nobelpreisträgern beeindruckt gemessen an der Kleinheit des Landes. Gerade in der Medizin dürfen wir stolz sein: Von Ake Senning’s Pionierleistungen in der Herzchirurgie bis zu Maurice Müller’s Durchbrüchen in der Orthopädie, Mahmud Gazi Yasargil’s Hirnoperationen und Andreas Grüntzig’s Erfindung der Ballondilatation hat die Schweiz Medizingeschichte geschrieben.
Chancen in der Neuen Welt
Und ohne Zweifel: In der globalen Welt, in welcher Einfaches von Schwellenländern für einen Bruchteil der Kosten der teuren Schweiz verrichtet wird, kann ein Land wie das Unsere mit gebildeten, aber anspruchsvollen Bürgern nur in den Bereichen erfolgreich bleiben, deren sich andere nicht einfach bemächtigen können; Tätigkeiten also, welche Erfahrung, Wissen, und Vertrauen erfordern – der Denkplatz ist unsere Chance. Und bisher ging es damit auch erstaunlich gut. Seit Alfred Escher 1855 das Eidgenössische Polytechnikum (heute die Eidgenössisch Technische Hochschule) gründete, entwickelte sie sich zu einer international beachteten Institution mit grossen Namen wie Albert Einstein, Wolfgang Pauli, Richard Ernst bis zu Kurt Wüthrich; die Universitäten der Kantone taten das ihre. Kurz: Der Denkplatz Schweiz blühte, bewegte Physik, Chemie, Technik und gestaltete die Medizin – Grund genug für Stolz.
Wird es so bleiben? Frieden und politische Stabilität trugen ebenso zum Erfolg des kleinen Landes bei wie Bildungsstand und Arbeitsethik seiner Bewohner. Während der Kriege, die Europa erschütterten, sammelten sich die besten Forscher und Intellektuellen auf der Insel der Seligen. Ja, noch heute locken Wohlstand, Landschaft und Lebensqualität und nicht zuletzt tiefe Steuern die Erfolgreichsten und Talentiertesten in unser Land. Doch anderes stimmt uns nachdenklich: Die Schulen sind nicht mehr, was sie einmal waren, die Naturwissenschaften – bisher Grundlage für Ingenieure, Techniker und Ärzte und eigentlich die Themen der Zeit – werden nicht mehr gleich gewichtet, ja sind fast schon in Verruf geraten. Eine kürzliche Analyse der ETH deckte die fachlichen Unterschiede unserer Gymnasien auf. Im Vergleich mit anderen Ländern hat uns PISA zurückgestuft. Entsprechend fallen die Studentenzahlen in Physik, Chemie und Ingenieurwissenschaften, ja selbst die Molekularbiologie und Medizin, Grundlage der Life Sciences, ziehen nicht die Zahl an Studenten an, die ihnen gebührt. Viele Spitäler können ihre Assistentenstellen nur noch mit Ausländern besetzen. Banking, Ökonomie, Juristerei, Medien und Marketing sind die Fächer der Zeit, in der der Geldwert herrscht. Wieso sich im Tüfteln verlieren, wenn sich an der Börse schnelles Geld verdienen lässt? Gestaltung und Innovation wurde durch eine neue Natürlichkeit, wie sie die Grünen erfolgreich in den gesellschaftlichen Diskurs einbrachten, ersetzt, die allem Neuen mit Skepsis begegnet, ja Eingriffe in die Natur zur neuen Sünde machte; und dies, obwohl Life Sciences, Umwelttechnologie und neue Energien die Themen der Zukunft sind. (Post-)Doktoranden an unseren Hochschulen kämpfen mit wuchernden Regulierungen für alles und jedes, Freisetzungsversuche werden wie die Pest behandelt, die Stammzellforschung mit Moratorien behindert. Während andere Länder jenseits der Grenze und des Atlantiks und in Asien mit Milliardeninvestitionen und Exzellenzinitiativen ihre Zukunft bauen, steigen die Forschungsmittel der Schweiz wenig und werden auf Universitäten und Fachhochschulen breit verteilt – ein Mangel an Fokus könnte uns zum Verhängnis werden. Und gewiss: Während die Holländische Herzstiftung über ihren Präsidenten Maarten Simoons der wissenschaftlichen Kommission 16 Millionen Euro für Forschungsprojekte vergeben kann, sind es bei uns kaum 2 Millionen CHF – selbst wenn wir für die Grösse der Länder korrigieren, gibt Holland zwölfmal mehr für kardiovaskuläre Forschung aus. Während die Helmholtzgesellschaft in Deutschland allein 325 Millionen Euro über 5 Jahre an die Herz-Kreislauf-Forschung in Berlin, Potsdam und Heidelberg vergibt, fliesst in der Schweiz ein kleinster Bruchteil solcher Mittel in diesen Forschungsbereich. Die Exzellenzinitiative im Norden pumpt Hunderte von Millionen Euro in die besten deutschen Universitäten – man fragt sich wie lange wir mit unseren Budgets mithalten können.
Schliesslich tut der Wohlstand das seine: Wer will sich noch mit Haut und Haar der Wissenschaft und Forschung verpflichten, wenn anderenorts eine sichere Stellung, hohes Einkommen oder Life-Work-Balance lockt? In einer hedonistischen Welt wird die Privatmedizin eine ernste Bedrohung für den akademischen Weg, nicht nur in der Schweiz, in England wird die Berufung von Lecturers und Readers bereits zum Problem. Kein Wunder sprechen die Post-Docs zunehmend Englisch (in der experimentellen Kardiologie des Schreibenden sind heute gerade mal 1 von 20 Fellows Schweizer), Einheimische zählen in der Grundlagenforschung zu den Exoten. Dies alles beobachten wir in einer globalen Welt, in der bisher unbekannte Konkurrenten an die Türe klopfen. Indien und China sind hungrig, wollen Aufstieg und Erfolg; sie fragen nicht nach Arbeitszeiten, Sicherheit und Freizeit. Die dritte Welt hat den Arbeitseifer unserer Vorfahren.
Gegenwartsschrumpfung und Gemächlichkeit
Bisher lebte die Schweiz von überlegter Zurückhaltung; was andere unvorsichtig anpackten, setzte man anschliessend aus Erfahrung besser um. In der Zeit der Gegenwartsschrumpfung hat sich dieser Ansatz entwertet: Heute winkt dem Entschlossenen und Ersten der Erfolg. Der Reisende, der in anderen Ländern die Entschlossenheit des Handelns erlebt und die Dynamik spürt, kehrt ernüchtert in die eigenen Lande zurück. Während bei uns die Planung zur Perfektion getrieben wird und Jahre verschlingt, gelegentlich noch Volksabstimmungen und andere Hürden zu nehmen sind, wird in der neuen Welt das neu Erdachte umgesetzt. Ämter, Kommissionen, Vernehmlassungen, die Meinung von Heimatschutz und Vereinen machen die Erneuerung bei uns zu einem Spiessrutenlauf, während in anderen Breiten die Zukunft vorweggenommen wird.
Was Wäre Zu Tun?
Der Denkplatz Schweiz kann in der globalen Konkurrenz nur nachhaltig bestehen, wenn die Bedingungen optimal sind: Es braucht erstens eine gesellschaftliche Wertung kreativen Tuns über das unmittelbar Pekuniäre hinaus – nur wo Wissen Anerkennung findet, wird es auch erbracht. Die jüngste Zeit war von Übereilung und Geldnützlichkeit beherrscht – die Folgen liegen uns vor Augen. Eine Rückbesinnung auf Produkte, die man in Händen halten und gebrauchen kann, eine Aufwertung von Wissen, das selbst erschaffen wurde und eine Abkehr vom Schall und Rauch virtueller Papiere, täte Not. Dazu braucht es Geduld und Zeit – wenig ist in Monaten entstanden, vieles fand seine Bestimmung erst nach Jahren. Das Schielen auf den nächsten Quartalsabschluss, auf eine unmittelbare Umsetzung neuer Erkenntnisse kann keine Innovation erbringen, vielmehr wird sie durch kurzsichtige Erwartungen verhindert.
Nachhaltigkeit braucht zweitens Vorbilder, die den Nachwuchs motivieren und die Besten auch aus dem Ausland zu uns bringen – denn ohne Talente lässt sich nichts erreichen. Die Ausstrahlung solcher «role models» sollte sich nicht aus ihrem astronomischen Gehalt begründen, vielmehr aus ihrer Beharrlichkeit, Wissen und Können – kurz der Leistung selbst. Auch in der Medizin bräuchte es eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte, auf Kompetenz, Erfahrung und Wissen. Die Diskordanz medialer und lokaler Wahrnehmung von Leistung und internationalem Erfolg bedarf einer Korrektur, wenn wir nicht den Nachwuchs demotivieren wollen.
Gewiss, die Schweiz tat sich von jeher schwer mit Eliten, Intellektuellen und kreativen Menschen – dennoch liess sich Herr Schweizer durch Erreichtes stets überzeugen. Der Abbau von Vor-Bildern, ja jeder Autorität in der Folge der 68er Revolte und der erstrebten Egalisierung der Gesellschaft droht Anreize zu ersticken – zuletzt tummeln sich alle lustlos im Mittelfeld. Es ist nicht die Geschichte selbst, wie wir uns damals vormachten, die den Forschritt bringt, es waren und sind immer aussergewöhnliche Menschen, die uns vorwärts bringen.
Drittens sind Investitionen zwingend; nicht in staatliche Institutionen alleine, auch die forschende Industrie ist entscheidend. Die Zusammenarbeit Universität / Industrie, sei es mit gestandenen Firmen oder Start-ups, ist nicht eine Sünde wider die Unabhängigkeit, sondern entscheidet darüber, ob eine Idee zu einem Produkt gedeihen kann. Dabei muss Herr und Frau Schweizer auch das Scheitern in Ehren ertragen lernen, sonst geht niemand ein Risiko ein; und ohne Zweifel scheitern die meisten Start-ups, nur wenige überleben und haben Erfolg (wie beispielsweise Actelion, ein Unternehmen, das von Forschern von Roche gegründet wurde), aber die sind es, die für uns zählen. Die soziale Ausgrenzung von Bankrotteuren ist ein Hindernis – und die Medien helfen hier fleissig mit.
Wichtig wäre sodann «charity», wie sie die Angelsachsen kennen. Was Erfolgreiche von Andrew Carnegie bis zu Bill Gates vormachten, die dankbare Rückgabe von Gütern an die Gesellschaft, die einem gross werden liess, stünde auch unseren Grossverdienern an. Amerikanische Universitäten wie Harvard, Yale, Duke und Stanford gehören nicht zuletzt deshalb zu den Ersten, ja Harvard schöpft über ihre Alumni-Organisation hunderte von Millionen Dollars jedes Jahr. Die Dankbarkeit, die der Amerikaner für seine teuren Universitäten empfindet, vermissen wir paradoxerweise in unserem Land, in welchem Bildung fast gratis zu haben ist.
Auch der Staat selbst täte gut daran, trotz (oder vielleicht gerade aufgrund) drohender Rezession mehr in den Bereich zu investieren, der unsere Zukunft ist. Mit den jetzigen Mitteln ist der Denkplatz Schweiz der globalen Konkurrenz langfristig nicht gewachsen. Nur wer, wie der Schreibende, als Gutachter anderer Länder Forschungsgelder verteilt, ist sich der fatalen Schere, die sich hier öffnet, bewusst.
Viertens braucht es schliesslich ein rechtliches Umfeld, das Risiko und Neuerungen zulässt, ja fördert. Wer jedes Risiko scheut (eine Haltung, die in unseren Gesetzen und Moratorien über Tierversuche, Stammzellen, In-vitro-Fertilisation und Freisetzungsversuchen zum Ausdruck kommt), kann nicht gewinnen: Neues ist immer unbekannt, bedrohlich, dann aber auch eine Bereicherung, eine Chance, vielleicht ein Durchbruch. Das Risiko wird bei uns wie unter der Lupe vergrössert wahrgenommen, während die Chancen zur Seite geschoben werden. Die einstigen Rebellen und neuen Konservativen, die mit Adorno’s Jargon der Eigentlichkeit Fortschritt, Technik und Naturwissenschaften entwerteten und als Biologismus und Technikgläubigkeit zu entlarven meinten, drohen durch inflationäre Regulierungen Innovation zu ersticken – und die Medien folgen ihnen in diesem Ansinnen ungefragt, sprechen vom Risiko jeder Neuerung und nicht von ihren Möglichkeiten, ja, verbreiten Angst und Schrecken. Der Hunger nach Neuem ist in der gesättigten alten Welt erlahmt, man sieht das Haar und nicht die Suppe, die uns stärken könnte. Eine Besinnung auf unsere Stärken täte not.