Fallbeschreibung
Eine 13jährige, 48,5 kg schwere, 1,72 m grosse Adoleszentin mit einer 3tägigen Geschichte von Fieber und Schluckbeschwerden wurde vor 3 Wochen vorstellig. Die körperliche Untersuchung war bis auf eine axilläre Temperatur von 38,4 °C und einer bilateralen Schwellung und Rötung der Tonsillen unauffällig. Da der Schnelltest für A-Streptokokken im Rachen eindeutig positiv war, wurde eine antibiotische Behandlung mit 750 mg Amoxycillin einmal täglich während 10 Tagen verordnet.
Die Adoleszentin (
Abb. 1), die angeblich die Medikation mit Amoxycillin (zusätzlich bekam sie während 3 Tagen Paracetamol als Antipyretikum) gewissenhaft einnahm, besucht nun wieder die Schule, fühlt sich gut und geht heute um 15.00 Uhr zum Hausarzt. Die körperliche Untersuchung ist unauffällig, mit einem inspektorisch normalen Befund im Rachen und ohne periphere Ödeme. Die axilläre Körpertemperatur beträgt 36,3 °C, der Blutdruck 129/85 mm Hg und der Puls 72/min. Im Urin ist die Glukose negativ, Protein ++, Sediment ohne Erythrozyten und Leukozyten.
Fragen
Ist die Entwicklung einer akuten PostStreptokokken-Glomerulonephritis trotz der lege artis Behandlung einer StreptokokkenAngina mit einem Penizillin-Antibiotikum möglich?
Ist der Blutdruck von 129/85 mm Hg bei dieser 13jährigen Adoleszentin zu hoch?
Passt der Urinstatus dieser Patientin zu einem akuten glomerulonephritischen Syndrom, also zu einer Post-StreptokokkenGlomerulonephritis?
Welche Diagnose vermuten Sie nun bei dieser Adoleszentin?
Antworten
a. Ja. Die antimikrobielle Behandlung der Streptokokken-Angina begünstigt den klinischen Verlauf der Tonsillitis und reduziert das Risiko, einen peritonsillären Abszess und ein rheumatisches Fieber zu entwickeln. Darüber hinaus wird die Übertragung der Tonsillitis von Mensch zu Mensch verhindert. Da die Post-Streptokokken-Glomerulonephritis eine relativ früh beginnende entzündliche Reaktion ist, die durch spezielle StreptokokkenStämme ausgelöst wird, ist leider die antimikrobielle Behandlung der Tonsillitis nur begrenzt im Hinblick auf die Entstehung der Glomerulonephritis wirksam [
1,
2].
b. Ja. Im Kindesund Adoleszentenalter stellt der Blutdruck eine von Alter, Körperlänge und Geschlecht abhängige Grösse dar. Dabei ist die Korrelation mit der Körperlänge ausgeprägter als jene mit dem Alter. Eine arterielle Hypertonie wird definiert als ein Messwert ≥95. Perzentile. Die Daten wurden in umfangreichen Tabellen zusammengestellt [
3]. Kürzlich wurden drei einfache Gleichungen für die Grenze der arteriellen Hypertonie (= 95. Perzentile, in mm Hg) im Alter von 1–17 Jahren empfohlen, die nur vom Alter, nicht von Geschlecht und Grösse, abhängig sind [
4]:
Systolisch(=95.Perzentile):100+(Alter×2)
Diastolisch(=95.Perzentile)
1–10 Jahre: 60 + (Alter ×2)
11–17 Jahre: 70 + Alter
Bei unserer 13 Jahre alten Adoleszentin mit einer Grenze zur Hypertonie bei 126/83 mm Hg ist also der Blutdruck mit 129/85 mm Hg zu hoch.
c. Nein. Der Terminus «akutes glomerulonephritisches Syndrom», der zunehmend den altmodischen Terminus «akutes nephritisches Syndrom» ersetzt, wird als eine akut einsetzende Erkrankung mit typischem, pathologisch verändertem Urinstatus definiert: pathologische Proteinurie und Sediment mit Erythrozyten und Erythrozyten-Zylinder. Bei fehlendem Nachweis von Erythrozyten-Zylindern ist die Diagnose des glomerulonephritischen Syndroms mit der Analyse der Erythrozyten-Morphologie möglich [
2,
5].
Bei unserer 13 Jahre alten Adoleszentin wurde eine Proteinurie, jedoch keine Erythozyturie nachgewiesen. Der Nachweis einer Proteinurie ohne assoziierte Erythrozyturie wäre für eine Post-Streptokokken-Glomerulonephritis ungewöhnlich. Ausgeschlossen ist ebenfalls das Vorliegen eines nephrotischen Syndroms, eine Krankheit, die durch den gleichzeitigen Nachweis einer schweren Proteinurie, Ödemen (bei unserer Adoleszentin nicht vorhanden), und einer schweren Hypoalbuminämie definiert wird [
6].
Bei der Adoleszentin liegt eine isolierte Proteinurie vor, d.h. ohne assoziierte Erythrozyturie (und Leukozyturie) und ohne Vollbild eines nephrotischen Syndroms. Dies kann Ausdruck einer chronischen glomerulären Nephropathie sein, kann jedoch physiologischerweise unter Umständen wie Fieber, Kälte, körperliche Anstrengung und vor allem Orthostase auftreten [
7].
d. Praxishypertonie und orthostatische Proteinurie.
Ad Praxishypertonie: Der Blutdruck wurde im Verlauf mehrmals zu Hause mit einem validierten Blutdruckmessgerät gemessen und war immer tiefer als 110/70 mm Hg. Im Verlauf war auch in der Hausarztpraxis der Blutdruck immer tiefer als 115–120/70–75 mm Hg.
Ad orthostatische Proteinurie: Im frischen Morgenurin wurde keine Proteinurie mehr mittels Streifen nachgewiesen. Auch die Messung der quantitativen Proteinurie, das heisst des Quotienten Protein/Kreatinin (Norm: bis 20 mg/mmol) in der ersten Morgenurin-Portion unmittelbar nach dem Aufstehen (Ergebnis bei der Adoleszentin: 8 mg/mmol) und am Nachmittag bei voller körperlicher Aktivität (Ergebnis bei der Adoleszentin: 146 mg/mmol) bestätigte die Vermutungsdiagnose einer orthostatischen Proteinurie. Die orthostatische Proteinurie ist eine häufige, harmlose Ursache einer isolierten Proteinurie, die nur bei aufrechter Körperhaltung, jedoch nicht in Horizontallage beobachtet wird. Sie wird vorwiegend bei schlanken Adoleszenten und jungen Erwachsenen beobachtet, die nicht selten eine lordotische Rückenhaltung aufweisen. Dopplersonographische Studien weisen darauf hin, dass die orthostatische Proteinurie auf eine Einklemmung der linken Vena renalis zwischen Aorta und Arteria mesenterica superior zurückzuführen ist [
7].