Der perioperative Umgang mit gerinnungshemmenden Substanzen ist eine Herausforderung, die nur interdisziplinär bewältigt werden kann. Operateure, Anästhesisten, Hämatologen und Kardiologen sollen gemeinsam umfassende interdisziplinär abgestützte Standards und spitalweit gültige Behandlungsstrategien festlegen, die auf die meisten Situationen anwendbar sind. Am Kantonsspital St. Gallen hat dieser Prozess die sogenannte «Gerinnungskarte» [1] hervorgebracht, in der die Thromboseprophylaxe in Chirurgie und Medizin den Umgang mit Thrombozytenaggregationshemmern und mit «alten» und «neuen» oralen Antikoagulantien regelt. Ungewöhnlich komplexe Umstände bedürfen einer individuellen Beurteilung durch die Entscheidungsträger der verschiedenen Disziplinen und ein gemeinsam abgesprochenes und abgestimmtes Vorgehen.
Anhand zweier typischer Fallbeispiele soll im Folgenden die aktuelle Vorgehensweise bei mit oralen Antikoagulantien behandelten Patienten exemplarisch dargestellt und diskutiert werden. In der Entscheidungsfindung sind vier Hauptaspekte zu berücksichtigen (
Table 1):
- 1
Wie wahrscheinlich und gefährlich sind allfällige (lokale) Blutungskomplikationen?
- 2
Wie hoch ist das Risiko thromboembolischer Komplikationen?
- 3
Wie dringlich muss der Eingriff durchgeführt werden?
- 4
Liegen spezielle Umstände vor (Schwangerschaft, Anamnese einer Heparinassoziierten Thrombopenie [HIT] etc.)?
Ist die Gefährlichkeit von Blutungskomplikationen klein, muss (und soll) die antikoagulatorische Medikation mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) nicht abgesetzt werden. So können die meisten zahnärztlichen Eingriffe und kardiologischen Interventionen wie Schrittmachereinlagen mit geringem Risiko unter fortgesetzter oraler Antikoagulation mit VKA durchgeführt werden. Andere Eingriffe, wie die meisten orthopädischen oder viszeralchirurgischen Operationen, bergen aber ein höheres Blutungsrisiko, weshalb die gerinnungshemmende Medikation pausiert werden muss. In einem solchen Fall muss entschieden werden, bis wann das gerinnungshemmende Medikament gegeben werden kann und ob allenfalls (beim Einsatz von VKA) eine überbrückende Therapie mit anderen gerinnungshemmenden Substanzen («Bridging») angezeigt ist. Diese Entscheidung beruht auf der Abschätzung des thromboembolischen Risikos unter sistierter Antikoagulation. Je nach der zugrunde liegenden Erkrankung (Vorhofflimmern, venöse Thromboembolien, mechanische Herzklappen etc.) wird das Risiko in der Literatur in der Regel in drei Gruppen eingeteilt [2], wobei Patienten mit tiefem Risiko kein intensiviertes «Bridging» benötigen, während solche mit einem hohen Risiko davon profitieren; bei Patienten mit mittlerem Risiko ist der Profit wahrscheinlich geringer als die potentiellen Nebenwirkungen. Patienten mit mechanischen Herzklappen in mitraler Position oder einem erst kürzlich durchgemachten venösen thromboembolischen Ereignis weisen das höchste Risiko auf. Das mit dem Vorhofflimmern einhergehende Risiko wird mittels des CHA2DS2-VASc-Scores [3] abgeschätzt, der allerdings für die perioperative Situation nicht validiert ist. Für das «Bridging» wird meistens ein niedermolekulares Heparin (low molecular weight heparin [LMWH]), in speziellen Situationen unfraktioniertes Heparin verwendet. Bei Hinweisen auf eine durchgemachte Heparininduzierte Thrombopenie (HIT) verbietet sich die Anwendung dieser Medikamentengruppen, und es können Alternativen wie z.B. Fondaparinux oder Argatroban eingesetzt werden. Aufgrund der kürzeren Halbwertszeit bei den neu verfügbaren direkten oralen Antikoagulantien (DOAC) braucht es hier kein «Bridging». Die Pause zwischen letzter präoperativer Einnahme des DOAC und dem OP-Zeitpunkt ist abhängig von der individuellen Nierenfunktion und dem Blutungsrisiko.
Fallvignette 1
Bei einem 76-jährigen Patienten mit hypertensiver Herzkrankheit und Vorhofflimmern soll nach mehreren Episoden einer Sigmadivertikulitis eine Sigmaresektion durchgeführt werden. Er hat vor zwei Jahren einen zerebrovaskulären Insult erlitten, von dem er sich gut erholt hat. Ausserdem ist eine peripher-arterielle Verschlusskrankheit bekannt. Er steht unter einem Angiotensin-IIRezeptor-Antagonisten, einem Diuretikum und einem Statin und nimmt ausserdem Dabigatran (Pradaxa®). Basierend auf den in Tabelle 1 dargestellten Grundüberlegungen müssen folgende Fragen beantwortet werden: (1.) Wann soll Dabigatran abgesetzt werden? (2.) Braucht es eine überbrückende Therapie mit anderen gerinnungshemmenden Substanzen? (3.) Wie wäre das Management bei einem Notfalleingriff? Zu den «neuen» oder besser direkten oralen Antikoagulantien (DOAC), die heute in der Schweiz zugelas sensind, gehören Rivaroxaban, Apixaban, Edoxaban und Dabigatran. Während die drei erstgenannten eine direkte Hemmung des aktivierten Faktor X bewirken, wirkt Dabigatran direkt gegen Thrombin (aktivierter Faktor II). Neben dem Angriffspunkt liegt der Hauptunterschied im Anteil der renalen Elimination; dieser ist bei Dabigatran erheblich, bei den Xa-Inhibitoren eher gering. Entsprechend unterschiedlich wirkt sich eine eingeschränkte Nierenfunktion auf die Akkumulation der Substanzen aus. Dies ist im Vorfeld operativer Eingriffe umso wichtiger, als die dem chirurgischen Eingriff zugrunde liegende Krankheit nicht selten mit einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes und Volumenverschiebungen einhergehen und so die Nierenfunktion in Mitleidenschaft ziehen kann. Eine grobe Übersicht über die Pharmakologie der Substanzen gibt
Tabelle 2. Da der im vorliegenden Fall geplante Eingriff nicht unter ununterbrochener DOAC-Therapie durchgeführt werden kann, muss der Zeitpunkt der letzten Einnahme festgelegt werden. Der Wirkabfall der DOACs tritt nach der letzten Einnahme relativ rasch und vorhersehbar auf. Eine normale Nierenfunktion vorausgesetzt, würde die letzte Einnahme im vorliegenden Fall 48 Stunden vor dem Eingriff erfolgen. Nach aktuellem Kenntnisstand kann auf ein «Bridging» verzichtet werden [4]. Eine kürzlich publizierte Untersuchung an einem Kollektiv aus Deutschland stützt dieses Vorgehen; so traten unter «Bridging» mehr Blutungen auf, ohne dass die Rate an thromboembolischen oder ischämischen Komplikationen gesenkt werden konnte [5].
Tabelle 3 gibt eine Übersicht über die einzuhaltenden Karenzzeiten. Da bis heute keine Medikamentenspiegel definiert werden konnten, unter denen ein Eingriff «sicher» durchgeführt werden kann (bzw. die klar mit einer erhöhten Blutungsneigung einhergehen), soll im Moment auf die Bestimmung solcher Spiegel verzichtet werden, sofern die notwendigen Karenzzeiten eingehalten werden und keine anderen Gegebenheiten vorliegen, die zu einer verzögerten Pharmakokinetik führen können.
In Notfallsituationen können die Spiegelbestimmungen Hinweise auf das aktuelle Ausmass der Medikamentenwirkungen geben und sinnvoll sein. Für die Beherrschung einer schweren Blutung unter DOACs wäre die Verfügbarkeit spezifischer Antidota hilfreich. Solche sind zurzeit nicht erhältlich, befinden sich aber in fortgeschrittener klinischer Erprobung [6]. Treten Blutungen auf, müssen unspezifische Massnahmen ergriffen werden, deren Wirksamkeit insgesamt sehr schlecht untersucht und wenig belegt ist. In diesen Situationen verabreichen wir primär Tranexamsäure und eventuell Desmopressin (1-Desamino-8-D-Arginin-Vasopressin, DDAVP). Gemäss Europäischen Richtlinien soll bei lebensbedrohlichen Blutungen die Gabe von Prothrombin-Komplex-Konzentrat oder aktiviertem Prothrombin-Komplex-Konzentrat erwogen werden [7]. Dabigatran, nicht aber Rivaroxaban, Apixaban oder Edoxaban kann mittels Nierenersatzverfahren eliminiert werden. Konzis darf aus der Literatur geschlossen werden, dass es unter DOACs im Vergleich zur klassischen oralen Antikoagulation zu weniger intrazerebralen Blutungen kommt [8,9]. Tritt eine solche auf, ist die Prognose trotz fehlender spezifischer Reversibilität nicht schlechter als unter VKA [10].
Nach einem Eingriff kann die Antikoagulation mit einem DOAC (allenfalls in vorerst reduzierter Dosis) wiederaufgenommen werden. Auf jeden Fall soll mit der Antikoagulation nicht zu früh begonnen werden, sondern frühestens 6 bis 12 Stunden postinterventionell.
Fallvignette 2
Eine 68-jährige Patientin mit koronarer und hypertensiver Herzkrankheit hat vor 15 Monaten einen akuten Myokardinfarkt erlitten und ist mit einer PCI und einem Drug- Eluting Stent in den Ramus circumflexus versorgt worden. Schon seit längerem besteht ein Vorhofflimmern mit einem CHA2DS2VASc-Score von 7. Nach 6 Monaten Behandlungsdauer mit VKA (Phenprocoumon; Marcoumar®), Aspirin® und Clopidogrel (Plavix®) ist Aspirin® nach 6 Monaten und Clopidogrel 12 Monate nach ACS (Acute coronary syndrome) gestoppt worden [11].
Diese Vorgehensweise entspricht den aktuellen Empfehlungen für Patienten mit Vorhofflimmern, die eine ACS erleiden und mittels koronarer Stentimplantation behandelt werden [11]. Das plättchenhemmende und antikoagulatorische Regime bei Patienten mit Revaskularisationsinterventionen im Rahmen einer stabilen KHK kann davon abweichen [11,12]. Eine Darstellung dieser Unterschiede sprengt den Rahmen dieser Arbeit.
Im Rahmen der Abklärung einer Herzinsuffizienz wurde bei obengenannter Patientin ein Bronchus-Karzinomdiagnostiziert, nun ist eine Lobektomie vorgesehen. Neben den oben gestellten Fragen nach dem Absetzen der VKA und einer allfälligen Bridging-Therapie muss hier auch überlegt werden, ob die Patientin perioperativ von einer Therapie mit Aspirin® (oder gar einem P2Y12-Inhibitor) profitieren könnte.
Wie bereits dargelegt, können und sollen (!) viele kleinere Eingriffe unter fortgesetzter oraler Antikoagulation mit VKA durchgeführt werden (zahnärztliche Eingriffe, Einlage von Schrittmachern und ICD usw.) und bedürfen keiner Unterbrechung der entsprechenden Therapie. Ist dies wegen der Gefährlichkeit von allfälligen Blutungskomplikationen nicht möglich, soll die Therapie mit VKA einige Tage präoperativ gestoppt werden. Sinkt der INR nicht adäquat ab, soll Vitamin K in kleiner Dosis (2 mg) substituiert werden. Grössere Dosen haben kaum Vorteile, bergen aber aufgrund der unterschiedlichen biologischen Wirkzeiten der Vitamin-K-abhängigen pro- und antikoagulatorischen Faktoren das Risiko einer Dysbalance mit konsekutiver Hyperkoagulabilität. In unserem Beispiel muss aufgrund eines CHA2DS2-VASc-Scores [3] von 7 von einem hohen thromboembolischen Risiko ausgegangen werden (Ereignisrate ohne Behandlung von ca. 12%/Jahr) [13], was eine Behandlung mit therapeutischen Dosen von LMWH notwendig macht. Allerdings demonstrieren neuere Untersuchungen bei Patienten mit Vorhofflimmern eine erhöhte Blutungsneigung unter dem «Bridging» mit Heparin oder LMWH, ohne dass es zu einer klaren Reduktion thromboembolischer Komplikationen kommt [14,15]. Metaanalysen bestätigen diese Resultate [16]. Diese Daten lassen vermuten, dass in Zukunft eher noch weniger Patienten einer BridgingTherapie zugeführt werden, als dies aktuell üblich ist. Im konkreten Fall würde also das Marcoumar 7 Tage präoperativ abgesetzt. Eine Behandlung mit LMWH (Richtdosis 100 Anti-Xa-Einheiten pro kg Körpergewicht 12-stündlich; cave, die Dosisangaben schwanken je nach Hersteller) wäre bei einem INR von <2,0 zu beginnen; die letzte präoperative LMWH-Dosis wäre spätestens 24 h präoperativ zu applizieren.
Besondere Beachtung muss dem Wiederbeginn der antithrombotischen Medikation nach dem Eingriff geschenkt werden. Hier empfiehlt sich ein langsamer und tief-dosierter Wiederbeginn mit nur allmählicher Dosissteigerung bis zum Erreichen der therapeutischen Targets binnen zwei bis drei Tagen postoperativ [4,17].
Ohne gleichzeitiges Vorliegen eines Vorhofflimmerns stehen Patienten nach koronarer Stent-Einlage unter einer lebenslänglichen Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern – in aller Regel Aspirin® [12]. Einhellig wird empfohlen, die vorbestehende Aspirin®Therapie perioperativ unverändert weiterzuführen – es sei denn, dass der geplante Eingriff ein sehr hohes Blutungsrisiko birgt [18,19]. Diese Empfehlung ist auch nach der Publikation der randomisierten POISE-2 Studie immer noch aktuell, waren doch in der Studienpopulation von 10 000 Patienten solche mit Stents lediglich gering vertreten [20]. In unserem Fallbeispiel steht die Patientin aufgrund der VKA-Therapie nicht unter Aspirin®. Ob dieses nun perioperativ bis zur vollständigen Wiedererreichung der präoperativen Situation eingesetzt werden soll, ist unklar. Zurzeit fehlen Daten zu diesem Szenario gänzlich, und auch die einschlägigen Richtlinien schweigen sich diesbezüglich aus. Trotz fehlender Evidenz befürworten wir bei Stentversorgten Patienten den perioperativen Einsatz von Aspirin®. In der skizzierten Situation würden wir also empfehlen, Aspirin® 100 mg täglich ab dem Absetzen von VKA zu geben und diese Behandlung bis zum Wiedererreichen eines stabilen therapeutischen INRWertes fortzuführen.
Aufgrund der recht kurzen Wirkzeiten der direkten oralen Antikoagulantien und dem zuverlässigen Abklingen ihrer Wirkung wurden verschiedentlich DOAC (vor allem Rivaroxaban) zum «Bridging» von unter VKA stehenden Patienten eingesetzt. Diese Strategie ist pharmakologisch zwar durchaus sinnvoll; leider fehlen aber zurzeit Daten, welche die Sicherheit und Zuverlässigkeit dieses Vorgehens dokumentieren würden. In diesem Sinne kann sie aktuell auch nicht empfohlen werden.
Treten unter VKA Blutungskomplikationen auf, kann die Wirkung der VKA mittels Gabe von Vitamin K innert Stunden oder mittels Gabe von Prothrombin-Komplex-Konzentrat sofort revertiert werden. Fresh Frozen Plasma soll in dieser Indikation nicht verwendet werden, weil die Wirkung weniger zuverlässig und mit mehr Nebenwirkungen behaftet ist [21]. Zu beachten ist die kurze Halbwertszeit von Vitamin K im Vergleich zu Marcoumar, was unter Umständen eine wiederholte Gabe von Vitamin K unumgänglich macht. Diesem Umstand ist auch bei der Wiederaufnahme der Marcoumar-Medikation Rechnung zu tragen und die «Startdosis» entsprechend zu reduzieren.