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Annual Report 2008 of the Swiss Society of Cardiology’s Working Group on “Cardiovascular Nursing and Allied Professions”
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Editorial

Ist Die Medizin von Sinnen?

by
Thomas F. Lüscher
Departement für Innere Medizin, Klinik für Kardiologie, Herzkreislaufzentrum, UniversitätsSpital Zürich, und Institut für Physiologie, Kardiovaskuläre Forschung, Universität Zürich, Zürich, Switzerland
Cardiovasc. Med. 2009, 12(10), 277; https://doi.org/10.4414/cvm.2009.01450
Submission received: 16 July 2009 / Revised: 16 August 2009 / Accepted: 16 September 2009 / Published: 16 October 2009
«… Immerhin betrifft unser Aberglaubenam meisten die Therapie, und diese istdenn auch zu einem viel zu grossen Teilnoch eine autistische, d.h. sie gründetsich zu sehr noch auf den uralten Bodender Wünsche und Einbildungen statt aufden der Wirklichkeit und strenger logischer Schlussfolgerung …»
Eugen Bleuler 1921

Aufklärung und die Folgen

Die Aufklärung hat uns Wissen und damit die Technik gebracht, imAlltag und in der Medizin – das sapere aude hat sich durchgesetzt. Wissen berief sich von da an nicht mehr auf das Urteil von Autoritäten oder auf den Glauben an höhere Mächte, vielmehr entstand es in derAuseinandersetzung mit der Wirklichkeit und ist gerade deshalb beeindruckend wirksam geworden.
In der Medizin brachte uns naturwissenschaftlich begründetes Wissen zunächst anatomische und später auch funktionelle Kenntnisse über unseren Körper und unsere Organe, danach brauchbare Untersuchungsmethoden, vom Stethoskop über die Röntgenstrahlen bis zum Ultraschall und der Magnet-Resonanz Tomographie. Schliesslich liessen sich selbst die grössten Seuchen der Menschheit, von der Pest über Cholera und Tuberkulose bis zur Kinderlähmung, verhüten und behandeln. Vor kurzem gelang uns gar eine beeindruckende Senkung der Sterblichkeit der Herz- und Kreislauf-Erkrankungen – ein beeindruckender Erfolg.

Die wissenschaftliche Methode

Möglich geworden ist dieser beachtliche Fortschritt durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf klinische Probleme, zuerst durch Louis Pasteur und Robert Koch, die die Bakteriologie begründeten, und die Grundlagen von Hygiene,Antisepsis undAntibiotika schufen [1]. Dann machten René Laennec, Hermann Ludwig, Ferdinand von Helmholtz, Willem Einthoven und Wilhelm Röntgen unter Nutzung physikalischer Methoden Struktur und Funktion unserer Organe sichtbar – und demArzt zugänglich. Mit der Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming (Abbildung 1A) und 1943 des Streptomycins durch Selman Waksman (Abbildung 1B) und seinen jungen Schweizer MitarbeiterAlbert Schatz, der bei der Nobelpreisverleihung fehlte, wurde die Medizin eine therapeutisch wirksame Wissenschaft. Den Beweis dazu hatte drei Jahre später Austin Bradford Hill, ein englischer Epidemiologe, durch die Einführung des randomisierten klinischen Versuchs gelegt [2]. Diese strikte Prüfung neuer therapeutischer Verfahren führte zur evidenzbasierten Medizin, wie wir sie heute kennen. Die Entwicklung des Polio-Impfstoffs durch Jonas Salk (Abbildung 1C) wenige Jahre später, brachte erstmals einen Sieg im Kampf gegen Viruserkrankungen – ein beeindruckender Erfolg auch hier.

Evidenz – Oder Was Uns Überzeugt

Die Überzeugungskraft naturwissenschaftlichen Denkens ist nicht nur auf ihre Falsifizierbarkeit zurückzuführen, wie Sir Karl Popper meinte [3], sondern mehr noch auf ihre praktischen Folgen. Die Ergebnisse dieses Denkens erlauben uns, nicht nur nach New York, sondern entgegen allen Erwartungen sogar auf den Mond zu fliegen. In der Medizin überzeugte der naturwissenschaftlicheAnsatz, weil er zu einer erfahrungsbasierten Anatomie (Abbildung 2A) und in der Folge zur modernen Chirurgie führte – eine Entwicklung, die die chinesische Medizin mit ihrer Meridiantheorie des Körpers nicht zu leisten vermochte (Abbildung 2B). Schliesslich ermöglichte er auch die Befreiung des Menschen von grossen Seuchen – von der Pest bis zur Kinderlähmung, Unfallopfer überleben heute schwerste Verletzungen, der Herzinfarkt ist kaum mehr der Rede wert – Eugen Bleuler (Abbildung 3) hätte seine wahre Freude gehabt. Und in der Tat war es nicht nur der empiristische Ansatz, sondern auch die mathematische Auswertung der Ergebnisse, die uns weiterbrachten, wie es Eugen Bleuler in seiner vielbeachteten Schrift forderte [4], und wie esAustin Bradford Hill und Richard Doll schliesslich mit randomisierten Untersuchungen umsetzten [2].
Seither wurde die Prüfung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis in der Medizin immer strenger und damit auch glaubwürdiger und folgenreicher: Nicht nur kennen wir dank dem Einsatz molekularbiologischer Methoden immer mehr Mechanismen, die unsere Zellen und Organe regulieren und bei Krankheiten aus dem Gleichgewicht geraten, auch unsere therapeutischen Massnahmen wurden und werden in immer grösseren und immer besser kontrollierten randomisierten Trials an Hunderten, ja Tausenden von Patienten geprüft. Was wir heute verwenden sind daher nicht autistische Meinungen, sondern evidenzbasierte Behandlungen, die sich mit Zahlen und nicht mit persönlichen Eindrücken und Meinungen legitimieren.

Die Rückkehr wilden Denkens

Dennoch scheint Eugen Bleulers Kritik des autistisch-undisziplinier ten Denkens in der Medizin ungehört zu verhallen. Zunehmend macht sich ein romantischer Glaube an eine paradiesische Natürlichkeit, ja eine doppelte Buchführung von naturwissenschaftlichem und sogenannt alternativem Denken sowie eine pessimistische Technikkritik in unserem Denken breit. In der Schweiz zeigt sich dieser geistige Wandel in der Debatte um dieAlternativmedizin und den sie begleitenden medialen Diskussionen.Aber auch die Kontroversen um Impfungen, machen deutlich, dass wir vergessen haben, was Jonas Salk und andere für die Bekämpfung vormals tödlicher Kinderkrankheiten geleistet haben. Sogenannte Experten, auch Ärzte, die selber weder einen wissenschaftlichen Leistungsausweis mitbringen noch eigene Zahlen vorlegen können, werden in medial inszenierten Diskussionsrunden mit einem anerkannten Professor für Immunologie in eine Reihe gesetzt, als ob Daten und Behauptungen gleichwertig wären.
Die Folgen gehen noch weiter: Dass die Politik nicht mit Einsicht gesegnet ist, ist bekannt. Es überrascht daher nicht, dass sie sich auch der Beurteilung von Heilverfahren für kompetent erachtet. Kürzlich ist das eidgenössische Parlament sogar soweit gegangen, die Überprüfung sogenannt schulmedizinischen Wissens und Therapien der sogenannten Alternativmedizin getrennt und mit verschiedenen Verfahren in Betracht zu ziehen; ja, die bernische Ständerätin Simonetta Sommaruga hat diese Haltung in der Sendung «Arena» auch lauthals und ohne jeden Zweifel dem Schweizer Volk verkündet – das autistisch-undisziplinierte Denken ist zurückgekehrt. Autistisch ist dieses Denken, weil es sich gegen jeden Zweifel abschottet, erfahrungsresistent ist und sich der wissenschaftlichen Überprüfung widersetzt. Undiszipliniert ist es, weil es selektiv wahrnimmt und hemmungslos dem Kausalitätsbedürfnis erliegt, auch da, wo der Zufall am Werk sein kann. Dass diesem Denken viele Stimmbürger folgen, ist in der romantischen Postmoderne, in der wir leben, vielleicht noch verständlich; dass aber auch Mediziner trotz der Schulung ihres Denkens mit den Wölfen heulen, stimmt nachdenklich.
Die Weigerung, insbesondere der Homöopathie, sich kontrollierten, randomisierten und verblindeten Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit ihrer Methode auszusetzen, ist eigentlich eine durchsichtige Taktik. Dass sie ernst genommen und – wie in der Welt schizophrener Patienten – eine doppelte Buchführung gefordert wird, das heisst, dass neben der Überprüfung schulmedizinischer Verfahren nach den Regeln der Naturwissenschaft und Statistik eine zweite Art von Evidenz gefordert wird, welche sich in der Wahrnehmung des Arztes und der Erfahrung des Patienten erschöpfen soll, ist unverständlich.Auch die Homöopathie lässt sich randomisiert überprüfen. In der Wissenschaft kann es keine zwei Wahrheiten geben; entweder ist die Aussage wahr oder falsch – tertium non datur. Der klinische Versuch zeichnet sich ja eben gerade dadurch aus, dass er Klarheit schafft und den Wert diagnostischer und therapeutischer Verfahren unabhängig von den Erwartungen des Arztes und des Patienten, unter Ausschluss von Zuordnungsfehlern und Zufällen, belegt oder verwirft. Wissenschaftliche Theorien müssen sich einer Prüfung ohne Bias unterziehen können, sonst sind sie unbrauchbar.

Ähnliches und Ungleiches

Eigentlich ist das Verdikt über die Homöopathie klar: Das vom Arzt Samuel Hahnemann im 18. Jahrhundert geschaffene Paradigma similia similibus curentur (Abbildung 4) lässt sich in einem naturwissenschaftlichen Weltbild nicht halten. Zunächst ist die von ihm beschriebene, für die Homöopathie zentrale und im Selbstversuch erhobenene Beobachtung, dass Chinin in hohen Dosen die Symptome des Sumpffiebers hervorruft und in hohen, durch Schütteln potenzierten Verdünnungen das gleiche Leiden heilt, experimentell nicht nachvollziehbar. In der Tat lassen sich die Symptome der Malaria, nicht wie von ihm behauptet, mit hohen Dosen von Chinin hervorrufen – der paradigmatische Selbstversuch ist nicht reproduzierbar. Zudem lässt sich weder durch mathematische Berechnungen noch durch direkte Messungen in den bis zu 32fach verdünnten Lösungen, die das Leiden heilen sollen, ein einziges verbliebenes Molekül finden. Wie soll Wasser ohne Inhalt eine Wirkung haben? Dazu wurde von Hahnemann der Begriff der Potenzierung geschaffen, das heisst, die Behauptung aufgestellt, dass das Wassermolekül Gedächtnis habe, sich an das einstmals vorhandene Molekül erinnere, ja durch das Schütteln bei jeder Verdünnung erst recht Wirkung entfalte. In gleicher Weise könnte man behaupten, dass ein Tonic Water auch in 32facher Verdünnung noch einen Touch von Schweppes enthalte – wer es glaubt, kann den Versuch selber machen.
Interessanter ist ein Fall aus jüngster Zeit: Der französische Biologe Jacques Benveniste (1935–2004) publizierte 1988 in der angesehenen Zeitschrift Nature Untersuchungen [5], welche angeblich zeigten, dass eine sehr hochverdünnte Lösung mit IgE die Funktion weisser Blutzellen zu beeinflussen vermochte – also ein Invitro-Beweis für das Unerhörte. Die letzten, durch den Editor der Zeitschrift Nature überwachten Versuche in Paris ergaben dann aber, dass seine Mitarbeiterin, welche interessanterweise gleichzeitig Beraterin einer Firma für homöopathische Produkte war, in verblindeten Versuchen die Ergebnisse nicht zu reproduzieren vermochte.
Eigentlich war die Sache schon immer klar: Samuel Hahnemann und seinen Verehrern gebührte der Nobelpreis für Physik, wenn seine Annahmen stimmten: Die Quantenphysik liesse sich nicht halten. Wenn Wasser auf diese Weise Gedächtnis zukäme, sich das Molekül also daran erinnerte, dass sich einst ein Medikament in ihm gelöst hatte, bevor die masslose Verdünnung es davon befreite, müssten die Gesetze der Natur neu geschrieben werden. Atome und wohl auch Moleküle würden dann ihre Eigenschaften aufgrund ihrer je eigenen Erfahrungen ändern – ein Phänomen, das die Quantenphysik bis heute nicht beschreiben konnte.

Die Skotomisation der Evidenz

Auch doppelblind kontrollierte Studien haben die Sache eigentlich geklärt. Wie der Berner Epidemiologe Shang im Lancet 2005 [6] nachwies, konnte in denjenigen doppelblinden kontrollierten Studien, welche den höchsten Standards evidenzbasierter Medizin entsprachen, keine Wirkung homöopathischer Medikamente nachgewiesen werden. Selbst der prominenteste Lehrstuhlinhaber für Naturheilkunde in Europa, Edzard Ernst aus Exeter, der seine medizinische Karriere einst als Homöopath begonnen hatte, hat klar festgehalten, dass der Homöopathie nichts weiter als eine Plazebowirkung zukommt [7].
Trotzdem, das undisziplinierte autistische Denken lebt weiter: ZahlloseApotheken und Ärzte in der Schweiz benutzen die Produkte. Naturwissenschaftlich ausgebildete Ärzte, die zumindest in unserem Lande eine anerkannte Hochschule besucht haben, verschreiben Wirkungsloses, ja treten in Fernsehen und Medien als Verfechter dieser Heilmethode aus dem 18. Jahrhundert auf.
Warum lassen sich Patienten und auch Ärzte immer wiedervonfalsifiziertenBehandlungenverführen?Esist die narrative Falle, wie sie Nassim Nicholas Taleb genannt hat [8], der wir erliegen. Patienten erzählen sich selbst und ihrem Arzt Geschichten: «Seit ich die Kügelchen eingenommen habe, sind die Schmerzen weg.» Man könnte auch sagen: Der Patient nahm die verordneten Kügelchenein.DieSchmerzengingenweg.ImerstenFall wird eine Kausalität gesetzt, im zweiten nicht. Wenn wir ins Erzählen kommen, sind Abläufe kausal verwebt, obgleich wir wissen, dass Schmerzen meist spontan weggehen, dass jede Verordnung als solche Wirkung hat. Was die Randomisierung vermeiden will, ist imAlltag überall präsent: Bias und Überinterpretation – auch die ärztliche Erfahrung erliegt zuweilen diesem Übel. Geschichten ziehen uns mehr an als statistische Daten.
Dem wäre eigentlich nichts entgegenzuhalten, wenn sich die Patienten Unwirksames selbst verschrieben und auch selbst bezahlten.Alles, was sich ausserhalb der gesellschaftlichen Sozialversicherung abspielt, ist gewissermassen Privatsache, man könnte es noch durchgehen lassen. Doch – zumal in der Schweiz – geht die Sache weiter: Was wir uns in der letzten Abstimmung selbst verordnet haben, ist ein in der Verfassung verbrieftes Recht, ein Recht, das die Gesellschaft zu berappen hat und das der Schulmedizin, die sich um Evidenz bemüht, nicht zukommt.

Die Überzeugungskraft der Natur

Neben der narrativen Falle gibt es weitere Fallstricke unseres Erkennens: Mit der zunehmenden Technisierung unserer Welt hat unerwarteterweise eine längst vergessene Naturromantik wieder eingesetzt. JeanJacques Rousseau hatte vor über 200 Jahren als erster den Naturzustand zum schlechthin Guten verklärt, gerade weil er sich in einer zivilisierten Welt bewegte und nicht in der Natur zu überleben hatte [9]. Und wirklich, die gezähmte Natur, in der wir heute leben, hat etwas Bergendes, Verführerisches: Neben dem Kräutertee und unseren Haustieren vergessen wir Giftpflanzen, wilde Tiere und Katastrophen. Aus der Distanz wird uns das Natürliche zum Überzeugendsten. Selbst gefährliche Infektionen erscheinen uns als natürliche Kräftigung unseres Körpers, die es zu unserem Nutzen durchzustehen gilt. Die künstliche, weil durch Menschenhand erschaffene Immunisierung, wird in Unkenntnis ihrer segensreichen Wirkung zum Teufelszeug erklärt. Die Toten der Polio-Epidemien der 1950er Jahre verschwimmen bei uns ebenso wie die lebenslang durch Masernenzephalitis gezeichneten Kinder in der durch eine romantische Naturphilosophie inspirierten geistigen Vernebelung.
Dennoch kann die Kräutermedizin aus dem Garten der Natur einiges vorweisen: So sind zahllose Medikamente von Digitalis und Atropin über das Penicillin bis zum Ciclosporin aus Pflanzen oder Pilzen gewonnen worden. Was die naturwissenschaftliche Medizin jedoch von den Kräuterärzten trennt, ist das Bemühen, die aktive Substanz zu isolieren, die Bestimmung ihrer Bioverfügbarkeit und Verteilung im Körper und zuletzt auch die Charakterisierung von Dosis und Wirkung bei Patienten mit bestimmten Leiden. Und wichtig ist dies bestimmt: So konnten die Vergiftungserscheinungen des Fingerhutextraktes wie Nausea und Erbrechen,Arrhythmien und Sehstörungen durch Isolierung des Steroidkörpers Digitalis vermindert und das Medikament sicherer gemacht werden. Kräutermedizin ist in diesem Sinne eine Anregung für naturwissenschaftliches Forschen und widerspricht ihr in keiner Weise. Das gilt auch für Traditional Chinese Medicine (TCM), welche über eine grosse Zahl von Extrakten aus Wurzeln, Pilzen und Mikroorganismen verfügt, welche durchaus in Zukunft für die evidenzbasierte Medizin von Nutzen sein könnten – sofern sie die rigorose Prüfung, die wir heute fordern, überstehen.
Das letztere ist das Entscheidende: Auch Natürliches muss sich einem Wirkungsnachweis unterziehen, denn das meiste wirkt nicht; zudem kann auch Natürliches schaden und muss daraufhin geprüft werden. So konnten wir wiederholt unerklärliche Abstossungsreaktionen von transplantierten Herzen beobachten, bis sich zeigte, dass das von den Patienten zur Stimmungshebung eingenommene natürliche Johanneskraut die Ciclosporinspiegel aufgrund einer Wirkung im Lebermetabolismus des Medikamentes dramatisch senkte [10]. Auch Natürliches kann schaden; die Naturmenschen wissen dies aus täglicher Erfahrung, nur der moderne Mensch, der unter einer Schutzglocke lebt, hat es vergessen.

Nadeln statt Skalpell

Die Vorstellung des Menschen von seinem eigenen Körper stimmt nur wenig mit der Wirklichkeit überein. Das überrascht nicht, schliesslich fühlen wir nur unseren Körper, sehen tun wir ihn nicht, auch in unser Innerstes konnten wir bis vor kurzem nicht eindringen. Mit der Renaissance und der Geburt derAnatomie änderte sich dies entscheidend (Abbildung 2A). Doch wirklich nur bei wenigen: Wie jüngst eine Studie zeigte, ist das Wissen von Patienten über ihre eigenen Organe und ihre Lage im Körper allem Fortschritt zum Trotz immer noch sehr beschränkt [11] – das Wissen hat sich nur sehr unvollständig durchgesetzt.
In gewissen Kulturen blieb die Sektion ein Sakrileg und man musste sich mit virtuellen Theorien des Körpers begnügen. Die chinesische Kultur ist dazu ein Beispiel. Die Meridiane der chinesischen Medizin (Abbildung 2B) wurden nicht experimentell gefunden, sie sind vielmehr ein heuristisches Modell praktizierender Ärzte, denen der Blick unter die Haut versagt blieb. In einer Kultur, die die Autopsie nicht zuliess, musste man sich mit Modellen begnügen. Mao selbst hatte die Theorie nicht überzeugt, er liess sich nach schulmedizinischen Grundsätzen behandeln; aber er belebte die traditionelle chinesische Medizin, denn er wusste, dass er sich in seinem Agrarstaat nichts anderes leisten konnte. Mit der Begeisterung der 1968er Jahre für ihn und seine Mitstreiter schwappte auch die traditionelle chinesische Medizin in unseren Breiten. Ungeprüft liessen wir uns von eindrücklichen – inzwischen entlarvten – Operationen ohne Narkose verführen.
Auch die Akupunktur wurde inzwischen kritisch überprüft. Mit Doppelblindversuchen und unter Verwendung der Scheinakupunktur als Kontrolle konnte zuletzt nur für Rückenschmerzen eine mögliche Wirkung nicht ausgeschlossen werden [12]. Die unkontrollierte Anwendung bei verschiedensten Leiden, wie wir sie heute sehen, entbehrt aber jeder Evidenz. Auch hier könnte man sagen, wenn es zum Wohlbefinden des Einzelnen gereicht, warum nicht? Bei Verwendung steriler Nadeln dürfte immerhin kein Schaden entstehen und ein Plazeboeffekt findet sich allemal. Falls der Kunde selber zahlt, wäre auch hier nichts einzuwenden, doch wenn der Sozialkontrakt zur Kasse gebeten wird, sieht die Sache anders aus.

Die Spaltung des Denkens

Die Folge ist eineAufspaltung der Medizin in eine sogenannt schulmedizinische und eine natürliche Sparte. Diese doppelte Buchführung muss als Rückschritt hinter die Aufklärung verstanden werden. Das Nebeneinanderexistieren von Begründung und Meinung, von Wissen und Glauben hat zu einem doppelgesichtigen Massstab von Evidenz geführt, der für die wissenschaftliche Medizin Mega-Trials und Entwicklungskosten in Milliardenhöhe verlangt und für die alternative Seite die Einführung ihrer Produkte durch Verführung erlaubt. Wirkung und Sicherheit sind für die einen etwas völlig anderes als für die anderen. Die Wiedergeburt des autistisch-undisziplinierten Denkens unter natürlicher Flagge lässt Untersuchungen und Behandlungen zu, welche den wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirkung schuldig bleiben. Neben einer rechtlichen Ungleichheit, haben wir damit auch die Forschung selbst der Lächerlichkeit preisgegeben: Wo alles gilt, gilt nichts.
Das «Zürcher Manifest zum Nachweis der Wirksamkeit medizinischer Verfahren», das die Medizinische Fakultät der Universität Zürich im Juli 2009 verabschiedet hat [13], versucht dies spät, wohl allzu spät zu korrigieren. Kaum ein Politiker, eine gesellschaftliche Gruppe, die gerne nach Klarheit ruft, kaum ein prominenter Forscher oder angesehener Professor, Personen also, welche eigentlich schon von Berufs wegen dazu verpflichtet wären, hat sich im Wahlkampf engagiert. Man war entweder bereits vom neuen Denken angesteckt oder gab resigniert von vornherein auf. Kurz: In der Schweiz ist die Aufklärung zu einem vorzeitigen Ende gekommen – unsere Medizin ist unzweifelhaft von Sinnen. Selbst die FMH, die Schweizerische Ärztegesellschaft, hielt es für angebracht, Stimmfreigabe zu empfehlen, so lauwarm sind wir geworden. Selbst die höchsten Vertreter unseres Standes hatten Angst davor, sich für ein wissenschaftliches Denken einzusetzen, das Grundlage der modernen Medizin ist, weil zu viele ihrer Mitglieder mit ungeprüften Methoden ihr Geld verdienen – money talks.

Sind wir zu Retten?

Dass diese Spaltung des Gesundheitssystems keinen Sinn macht, leuchtet eigentlich jedem ein, doppelte Massstäbe machen weder medizinisch noch rechtlich Sinn. Wie können wir uns daraus befreien? Der Wirkungsnachweis wäre eigentlich Voraussetzung für ärztliches Tun, zumal wenn die solidarische Gemeinschaft dafür aufkommen soll. Wenn wir uns daran halten, wie es im Krankenversicherungsgesetz vorgesehen wäre, liesse sich ein Ausweg finden, dann gäbe es nur noch Wirksames und Wirkungsloses, die Unterscheidung von Schul- undAlternativmedizin würde bedeutungslos. Was Jürgen Habermas forderte [14], einen rationalen Diskurs, der sich an vernünftigeArgumente hält, wäre auch der Medizin wieder zu gönnen.

References

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Abbildung 1. Pioniere der wissenschaftlichen Medizin: Alexander Fleming (1881–1955; A), Entdecker des Penicillins, Selman Waksman (1888–1973; B), der mit seinem Schweizer Assistenten Albert Schatz 1943 das Streptomycin entdeckte, und Jonas Salk (1914–1995; C), der die Polio-Impfung entwickelte.
Abbildung 1. Pioniere der wissenschaftlichen Medizin: Alexander Fleming (1881–1955; A), Entdecker des Penicillins, Selman Waksman (1888–1973; B), der mit seinem Schweizer Assistenten Albert Schatz 1943 das Streptomycin entdeckte, und Jonas Salk (1914–1995; C), der die Polio-Impfung entwickelte.
Cardiovascmed 12 00277 g001
Abbildung 2. Westliche und östliche Anatomie des menschlichen Körpers: Der in Brüssel geborene grosse Anatom André Wasale, später latinisiert Vesalius (1514–1564), schuf in Paris und später in Padua die moderne Anatomie durch Sektion von Leichen. Die chinesische Medizin, der dieser Zugang aus kulturellen und politischen Gründen versagt blieb, entwickelte die theoretisch basierte Meridiantheorie, die gänzlich auf eine organorientierte Sichtweise verzichtet. A:Aus De Humani Corporis Fabrica, 1543. B: Hua Shou. Expression of the fourteen meridians (Tokyo, 1716).
Abbildung 2. Westliche und östliche Anatomie des menschlichen Körpers: Der in Brüssel geborene grosse Anatom André Wasale, später latinisiert Vesalius (1514–1564), schuf in Paris und später in Padua die moderne Anatomie durch Sektion von Leichen. Die chinesische Medizin, der dieser Zugang aus kulturellen und politischen Gründen versagt blieb, entwickelte die theoretisch basierte Meridiantheorie, die gänzlich auf eine organorientierte Sichtweise verzichtet. A:Aus De Humani Corporis Fabrica, 1543. B: Hua Shou. Expression of the fourteen meridians (Tokyo, 1716).
Cardiovascmed 12 00277 g002
Abbildung 3. Pionier der wissenschaftlichen Methode: Eugen Bleuler (1857–1939), bedeutender Schweizer Psychiater, welcher den Begriff Schizophrenie in die Psychiatrie einführte. Seine Schrift zum autistisch-undisziplinierten Denken in der Medizin machte ihn auch ausserhalb seines Fachkreises bekannt.
Abbildung 3. Pionier der wissenschaftlichen Methode: Eugen Bleuler (1857–1939), bedeutender Schweizer Psychiater, welcher den Begriff Schizophrenie in die Psychiatrie einführte. Seine Schrift zum autistisch-undisziplinierten Denken in der Medizin machte ihn auch ausserhalb seines Fachkreises bekannt.
Cardiovascmed 12 00277 g003
Abbildung 4. Samuel Hahnemann (1755–1843), Begründer der Homöopathie und Autor des 1810 erschienenen «Organon der rationellen Heilkunde», das in zahllosen Auflagen bis heute unter dem leicht veränderten Titel «Organon der Heilkunde» das Standardwerk der Homöopathie geblieben ist.
Abbildung 4. Samuel Hahnemann (1755–1843), Begründer der Homöopathie und Autor des 1810 erschienenen «Organon der rationellen Heilkunde», das in zahllosen Auflagen bis heute unter dem leicht veränderten Titel «Organon der Heilkunde» das Standardwerk der Homöopathie geblieben ist.
Cardiovascmed 12 00277 g004

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Lüscher, T.F. Ist Die Medizin von Sinnen? Cardiovasc. Med. 2009, 12, 277. https://doi.org/10.4414/cvm.2009.01450

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Lüscher TF. Ist Die Medizin von Sinnen? Cardiovascular Medicine. 2009; 12(10):277. https://doi.org/10.4414/cvm.2009.01450

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Lüscher, Thomas F. 2009. "Ist Die Medizin von Sinnen?" Cardiovascular Medicine 12, no. 10: 277. https://doi.org/10.4414/cvm.2009.01450

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